Nach drei Monaten Krieg haben sich Wiktoria und ihre Schwester Natali aus Mariupol zum ersten Mal in St. Petersburg wieder getroffen. «Ständig haben wir uns Sorgen gemacht, was wohl mit unserer Wika ist. Sie war einfach die ganze Zeit nicht zu erreichen», erzählt die 43-jährige Natalia.
Sie wirft einen Blick auf ihre Schwester neben sich, als könnte sie es noch nicht ganz glauben, dass sie einander gefunden haben. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ihre Schwester noch lebt. «Zu dritt haben sie mir das Leben gerettet: die Hebamme, die Anästhesistin und die Ärztin Swetlana Nikolajewna. Sie haben ein Wunder vollbracht.»
Eine Rettung aus Trümmern
Wiktoria war in der Geburtsklinik in Mariupol, als am 9. März eine Fliegerbombe auf das Krankenhaus und die Geburtsklinik Nummer 3 abgeworfen wurde. «Ich war im Epizentrum des Einschlags. Auf mich fielen am allermeisten Trümmer. Denn ich lag gleich unter dem Fenster.»
Das Kind konnten sie nicht retten.
Dank der lokalen Rettungsdienste und der Polizei in Mariupol sei es gelungen, sie aus den Trümmern zu bergen, erzählt Wiktoria: «Ich wurde schwerverletzt in ein anderes Geburtshaus gebracht. Ich hatte viele Wunden. An Händen, Beinen und am Bauch. Das Kind konnten sie nicht retten.»
Eine Familie unter Beschuss
Während ihr gemeinsames ungeborenes Kind bereits verstorben ist, weiss Wiktorias Mann nichts vom Luftangriff. «Die Stadt war abgeschnitten von jeder Strom- und Internetverbindung. Einen Tag nachdem die Fliegerbombe auf die Klinik abgeschossen wurde, machte sich mein Mann auf den Weg. Doch in der Geburtsklinik kam er nie an. Unterwegs geriet er selbst unter Beschuss.»
Doch in der Geburtsklinik kam er nie an. Unterwegs geriet er selbst unter Beschuss.
Ihr Mann Wladimir wurde schwer verwundet am Bein. Es gelang ihm, mithilfe von Menschen vor Ort in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht zu werden. Dort konnte die Blutung zwar gestoppt werden, doch es gab keine Möglichkeiten, ihn angemessen vor Ort zu behandeln.
«Das Personal der Klinik sagte, dass er nach Donezk gebracht werden müsse. Denn das Gewebe begann abzusterben. Nur in Donezk sei es möglich, eine Überlebens-rettende Amputation vorzunehmen. Nur dort gebe es Licht, Ausrüstung und dafür qualifizierte Ärzte.»
Eine Verlegung nach Donezk bedeutete, aus der von Russland umstellten ukrainischen Stadt Mariupol auf von Russland seit Jahren kontrolliertes Gebiet der Ukraine gebracht zu werden. Vor einer wirklichen Wahl stand Wladimir jedoch nicht. Wie sich später herausstellen sollte, wurde die Amputation nicht sehr professionell gemacht und zu weit oben am Bein durchgeführt.
Zerstörter Lebenstraum
Während Wladimir das linke Bein in Donezk amputiert wurde, lag Wiktoria im Keller der Geburtsklinik, wohin man sie evakuiert hatte. Sie dachte, dass ihre Angehörigen in Mariupol seien. Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch bereits alleine in der Stadt.
Mein ganzes Leben habe ich mir ein Kind gewünscht und davon geträumt. Auf einmal ist alles verloren.
Während der anhaltenden Gefahr durch den Beschuss der russischen Armee trauert Wiktoria um den Verlust des Kindes: «Mein ganzes Leben habe ich mir ein Kind gewünscht und davon geträumt. Auf einmal ist alles verloren.»
Als die russische Armee die Stadt bereits fast vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hat, erfährt Wiktoria vom Schicksal ihres Mannes. «Für einen Mann in seinem jungen Alter ist dies sehr schwierig. Man hat noch so viel vor sich.» Sie versucht mit allen Kräften nach Donezk zu ihrem Mann zu kommen. Dort sind sie zwar endlich wieder vereint, doch die medizinische Hilfe erweist sich als unzureichend.
Rettung auf Zeit
Freiwillige aus St. Petersburg helfen Wiktoria und Wladimir, aus Donezk nach St. Petersburg zu reisen. Vom Bahnhof muss Wladimir direkt ins Spital gefahren werden. Denn in der Zwischenzeit ist er an einer Hirnhautentzündung erkrankt. Während der Fahrt hatte er fast durchgehend hohes Fieber.
Die Hirnhautentzündung bekommt man im Spital in St. Petersburg in den Griff. Doch das Krankenhaus ist nicht auf Amputationen spezialisiert und alle medizinische Einrichtungen in Russland, die weiterhelfen können, sind in diesen Wochen durch russische Soldaten überbelegt.
Zusammen in der Sackgasse
Wie es mit ihnen weitergeht, das wissen sie, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer, zurzeit nicht. In Russland scheinen sie in einer Sackgasse angekommen zu sein, aus welcher es kein einfaches Entkommen gibt.
Aber zusammenbleiben wollen die Schwestern: «Wir haben unser ganzes Leben nahe beieinander gelebt», erzählt Wiktoria. «Die ganze Zeit. Auch als Wiktoria verheiratet war, kam sie noch immer jede Woche auf Besuch, deswegen war für uns diese Trennung besonders schlimm. Alle Verwandten waren bei mir, aber sie nicht.» Sie verbringen nun in St. Petersburg jede freie Minute zusammen. Und sie hoffen, dass Wiktorias Mann möglichst bald aus dem Krankenhaus entlassen wird und sie eine Möglichkeit finden werden, ihn im europäischen Ausland behandeln zu lassen.