Der Westen liefert weiter Waffen an die Ukraine: US-Präsident Joe Biden hat die Lieferung von Mehrfach-Raketenwerfern versprochen, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz will ein modernes Luftabwehrsystem liefern. Mauro Mantovani von der Militärakademie der ETH Zürich erklärt, wie sich das auf den weiteren Kriegsverlauf auswirken könnte.
SRF News: Was bringen diese Waffenlieferungen konkret?
Mauro Mantovani: Sie sind sehr hilfreich für die ukrainischen Kriegsanstrengungen und den Wehrwillen der Nation. Ohne westliche Waffen und Aufklärungsdaten wäre die ukrainische Armee wohl überrannt worden.
Die USA liefern einen Mehrfach-Raketenwerfer. Was ist das für ein System?
Das «High Mobility Artillery Rocket System (Himars)» ist ein sehr fortgeschrittenes Artilleriesystem. Es ist ein Mehrfach-Raketenwerfer von kürzerer und mittlerer Reichweite. US-Präsident Biden hat die Lieferung einer kleinen Anzahl angekündigt und zwar der Kurzstreckenversion. Diese kann immerhin doppelt so weit wirken wie die Panzerhaubitze M777, welche die USA bereits an die Ukraine geliefert haben.
Bis Himars an der Front wirksam wird, vergeht eine beträchtliche Zeit.
Vor allem aber ist die Reichweite grösser als jene der russischen Artillerie. Das heisst: Die Ukrainer können die Russen treffen ohne zu riskieren, selbst getroffen zu werden. Weil Himars sehr präzise ist, können sie damit russische Ziele in der Tiefe angreifen. Zum Beispiel Hauptquartiere, Depots, aber auch Artilleriestellungen.
Deutschland will der Ukraine ein modernes Flugabwehrsystem liefern. Was ist davon zu halten?
In diesem jüngsten deutschen Hilfspaket ragt tatsächlich das Flugabwehrsystem Iris-T heraus. Im Unterschied zum amerikanischen Himars ist es ein defensives System, das Schutz gegen Luftangriffe geben kann – so etwa gegen anfliegende Flugzeuge, Helikopter und Drohnen. Dies in einem Radius von etwa vierzig Kilometern. Das heisst, Iris-T kann zum Beispiel eine Stadt in alle Himmelsrichtungen verteidigen und dabei auch mehrere anfliegende Ziele gleichzeitig bekämpfen.
Russland seinerseits verfügt ja nicht nur über Artillerie, sondern auch über Mittelstreckenraketen, Marschflugkörper und Kampfjets. Sind die neuen Waffenlieferungen trotzdem ein Vorteil für die Ukraine?
Es stimmt natürlich: Die Russen haben weiterhin Möglichkeiten, diese Systeme anzugreifen. Aber sie sind «gefechtsfeldmobil». Das heisst, sie können sehr schnell ihren Standort wechseln. In der Sprache der Artilleristen heisst das «Schiessen und Verschwinden». Das erschwert einem Gegner die Ortung.
Himars hat das Potenzial für einen Gamechanger. Das erklärt auch, warum der Kreml sehr heftig auf die Ankündigung dieses System reagiert hat.
Ausserdem gibt es Berichte, wonach die russische Armee bereits einen Grossteil ihrer Präzisionsmunition verschossen hat. Diese Munition wäre zwingend nötig für die Ausschaltung von Himars und Iris-T.
Wie entscheidend könnten die westlichen Waffenlieferungen für den weiteren Kriegsverlauf sein?
Himars bringt der ukrainischen Artillerie eine erhebliche Steigerung ihrer Feuerkraft und Präzision. Es schafft nicht nur einen Nachteilsausgleich, sondern sogar eine sektorielle taktische Überlegenheit der Ukraine gegenüber den Russen. Insofern hat Himars das Potenzial für einen Gamechanger. Das erklärt auch, warum der Kreml sehr heftig auf die Ankündigung dieses Systems reagiert hat. Allerdings gilt für alle Waffen, die aus dem Westen geliefert werden: Ihre Wirkung hängt wesentlich von der tatsächlich gelieferten Stückzahl und der Anzahl Systeme, die an die Front gelangen, ab. Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschätzen.
Das Gespräch führte Silvan Zemp.