«Ich heisse Oleksiy Dvernytsky, komme aus Kiew und bin 41 Jahre alt. Normalerweise arbeite ich als Programmierer. Jetzt aber bin ich freiwilliger Ambulanzfahrer im Sanitätsbataillon Hospitaliter. Wir bringen verletzte Soldaten von der Front in Spitäler. Ich habe den Überblick verloren, habe aber bestimmt schon hunderten geholfen.
Wir sind alle freiwillig hier, wir bekommen kein Geld. Einige von uns haben unbezahlten Urlaub genommen, um bei den Hospitalitern zu sein. Zum Glück bezahlt mein Arbeitgeber mich weiterhin, aus gutem Willen. Ich habe einen einwöchigen Kurs hinter mir, in dem ich Erste Hilfe im Krieg gelernt habe.
Wir waren schon Wochen vor dem Beginn des Kriegs vorbereitet auf einen grossflächigen Angriff. Als dann am 24. Februar Russland losmarschiert ist, rückte ich sofort ein. Seither bin ich kaum je zu Hause gewesen. Meine Mutter und meine Schwester sind inzwischen auch nicht mehr in Kiew, sie sind in Sicherheit. Meine Familie versteht, dass es normal ist für einen Mann, sein Land zu verteidigen.
Hier im Osten fahren wir meistens in der Nacht mit unseren Ambulanzen – ohne Licht. Denn wir benutzen Strassen, die beschossen werden mit Maschinenpistolen, Artillerie, Granaten. Heute aber mussten wir am Tag ausrücken, um zwei Verwundete abzuholen – am Tag müssen wir schnell fahren, denn nur die Geschwindigkeit kann uns retten, wenn die Russen uns beschiessen. Allerdings sind mehr als 50 Kilometer pro Stunde auf zerschossenen Strassen kaum möglich.
Ambulanzen sind ein bequemes Ziel für Beschuss – die Russen suchen richtig danach. Deshalb sind unsere Fahrzeuge nicht angeschrieben. Einmal haben sie unseren Stützpunkt bombardiert; wir sind in den Keller gerannt. In einer Feuerpause habe ich mich rausgeschlichen und gesehen, dass unsere Ambulanzen noch intakt waren. Also sind wir eingestiegen und geflohen.
Ambulanzen sind ein bequemes Ziel für Beschuss. Deshalb sind unsere Fahrzeuge nicht angeschrieben.
Zum Glück hat uns heute aber niemand beschossen. Wir versteckten die Ambulanz, warteten im Schützengraben, dann brachte uns ein Auto an die Front. Dort wartete ein Soldat mit einer schlimmen Wunde von einem Granatsplitter, ein anderer hatte ein schweres Schädelhirntrauma. Wir konnten beide retten.
Gestern war alles viel schwieriger: Um drei Uhr morgens wurde ich aus dem Schlaf gerissen, wir mussten zu einem weit entfernten Stützpunkt fahren, um einen Verwundeten abzuholen. In der Dunkelheit, ganz nahe an den feindlichen Linien, schlitzte uns ein Granatsplitter den Reifen auf.
Ein Kollege und ich mussten den Reifen im Stockdunkeln reparieren, voller Angst, erschossen zu werden. Wir schafften es – und als wir beim Stützpunkt ankamen, waren dort sechs Verletzte. Zum Glück aber keine Schwerverletzten. Eigentlich sind die Ambulanzen gemacht für eine Person, aber wir nehmen oft mehrere mit.
Wir sind nicht besonders gut ausgerüstet. Viele Kollegen haben zum Beispiel keine kugelsichere Weste – sie benutzen stattdessen schwere Stahlplatten. Wir haben auch nicht genug Helme. Ich zum Beispiel brauche einen Helm, auf dem ich gleichzeitig Kopfhörer und ein Nachtsichtgerät montieren kann. So einen kann ich aber nicht finden, deshalb fahre ich nachts ohne Helm.
Auch mit dem Essen ist es nicht so einfach. Oft geben uns Zivilisten etwas zu essen und lassen uns in ihren Häusern schlafen.
An die verletzten und getöteten Zivilisten kann ich mich nicht gewöhnen. Das macht mich fertig.
Es ist seltsam, ich habe mich gewöhnt an verletzte und sogar tote Soldaten. Das ist jetzt mein Job hier. Natürlich habe ich manchmal Angst, aber wenn das Leben anderer Menschen von dir abhängt, dann ist es einfacher, mit der Angst umzugehen. Dann machst du deinen Job trotzdem.
Nicht gewöhnen kann ich mich aber an die verletzten und getöteten Zivilisten, das macht mich fertig.
Da waren diese Leute, die vor einer Fabrik auf den Bus gewartet hatten, um nach der Arbeit nach Hause zu fahren. Die Russen bombardierten die Bushaltestelle, es gab mehrere Tote und Verletzte.
Wir nahmen eine Frau mit, der die Bombe ein Bein abgerissen hatte, die Splitter im Kopf und in den Armen hatte. Das nächste Spital war 50 Kilometer entfernt, ich musste schnell, aber gleichzeitig vorsichtig fahren. Das Stöhnen der Frau werde ich nie vergessen.
Eigentlich ist meine Muttersprache Russisch. Aber vor zwei Jahren begann ich, nur noch Ukrainisch zu sprechen.
Russen bin ich persönlich nicht begegnet, aber ich habe gesehen, wie viel Chaos und Schmutz sie in den Dörfern zurücklassen. Da war dieses Haus, das eigentlich ein Badezimmer hatte. Aber die Russen liessen überall Fäkalien und dreckige Unterwäsche herumliegen.
Eigentlich ist meine Muttersprache Russisch. Aber vor zwei Jahren begann ich, nur noch Ukrainisch zu sprechen. Wegen der russischen Aggression gegen uns. Auf jeden Fall will ich in der Ukraine bleiben, ich liebe mein Land, fühle mich wohl hier. Ich glaube aber nicht, dass die Russen und wir in absehbarer Zeit wieder gute Nachbarn sein können.»