Mit dem Fall der Grossstadt Lissitschansk ist die gesamte Oblast Luhansk unter russischer Kontrolle. Besonders im Osten des Landes sehe es schlecht aus für die Ukraine, sagt Marcel Berni, Strategieexperte an der Militärakademie der ETH Zürich.
SRF News: Wird sich Putin weiter auf den Osten der Ukraine konzentrieren?
Marcel Berni: Nachdem Luhansk komplett in russischer Hand ist, wird der Schwerpunkt der russischen Kräfte weiterhin im Donbass zu erwarten sein. Das heisst, es wird jetzt darum gehen, auch die Oblast Donezk unter russische Kontrolle zu bringen und die zwei Städte Slowjansk und Kramatorsk anzugreifen. Ich erwarte die schwersten Kampfhandlungen also weiterhin im Donbass.
In welcher Form erwarten Sie den Vorstoss der russischen Truppen auf die Ostukraine?
Im Donbass hat die russische Armee ihren operativen Schwerpunkt gebildet und weist die höchste Truppenkonzentration auf. Dort wird sie weiterhin mit Artillerie und schweren Waffen an gezielten Stellen die Front der Ukrainer angreifen, sie abnutzen und Schritt für Schritt versuchen, sie zu vertreiben.
Was geschieht im Süden des Landes in Küstennähe?
Im Süden sehen wir Entlastungsangriffe der Ukraine. Das heisst, die ukrainischen Truppen wollen die Russen zwingen, die Konzentration im Donbass aufzulösen, um vermehrt auch Truppen in den Süden und in den Norden dieses Halbmondes, wo jetzt gekämpft wird, zu entsenden. Sie wollen schauen, dass der konzentrierte Angriff in der Mitte der Front nicht zustande kommt.
In welchem Zustand ist die ukrainische Armee derzeit?
Die ukrainischen Truppen haben in den letzten Wochen grosse Verluste erlitten. Sie haben viel Personal, aber auch Material verloren. Die alten sowjetischen Munitionsreserven sind beinahe aufgebraucht. Nun geht es für die Ukrainer darum, nicht nur westliche Waffensysteme an die Front zu transportieren, sondern auch kompatible westliche Munition. Die via Polen in die Ukraine gelieferten Waffen und die Munition soll so schnell wie möglich an die Frontlinien im Donbass gebracht werden.
Gelangt die Munition derzeit bis an die Front?
Im Moment kommt die Munition in der Ukraine an, aber wir wissen nur wenig darüber, wie viel davon wirklich an die Front transportiert wird. Das Problem ist, dass Transporte über die Schienen- und Strassenwege von den Russen mit Distanzwaffen angegriffen werden. Wenn der Transport nicht klappt, gelingt auch die Verteidigung an der Front nicht.
Ich glaube, es wird ein extrem blutiger Abnutzungskrieg.
Was lässt sich auf der anderen Seite über den Zustand der russischen Armee sagen?
Die Tragik des russischen Vorgehens ist, dass sie Städte, die sie einnehmen wollen, «kaputt schiessen» müssen. Das hat sich in Sjewjerodonezk und Lissitschansk gezeigt. Die russischen Truppen haben die Städte aus weiter Entfernung massiv beschossen und sie erst danach infanteristisch eingenommen. Das ist ein taktisches Vorgehen, das sich wahrscheinlich wiederholen wird. Ich gehe davon aus, dass die Russen bei Slowjansk und Kramatorsk mit ähnlichen Methoden vorgehen werden.
Glauben Sie an einen Erfolg der russischen Truppen in diesen Städten?
Ich glaube, es wird ein extrem blutiger Abnutzungskrieg. In Slowjansk und Kramatorsk drohen uns in den nächsten Wochen zwei grosse Schlachten. Wer am Schluss die Oberhand behalten wird, kann ich nicht sagen. Die beiden Städte sind aber besser befestigt und verkehrstechnisch wichtiger als Sjewjerodonezk und Lissitschansk. Putin wird nach dem Donbass wohl weitere ukrainische Gebiete erobern wollen.
Das Gespräch führte Benedikt Hofer.