Welche Absichten der russische Präsident Wladimir Putin in der Ukraine verfolgt, hat er diese Woche erstaunlich klar skizziert: In einer Rede hat er sich mit Zar Peter dem Grossen verglichen. Er machte Russland im frühen 18. Jahrhundert durch die Eroberung von Territorien zu einer Grossmacht. SRF-Auslandredaktor David Nauer über das neue russische Grossmachtsverständnis als Motivation für den Angriff auf die Ukraine.
SRF News: Liegen die Motive von Präsident Wladimir Putin mit dem Bezug auf Peter den Grossen jetzt klar auf dem Tisch?
David Nauer: Ja, das tun sie. Die Gründe für den Angriffskrieg auf die Ukraine, die Moskau bisher vorgebracht hat, dass beispielsweise in Kiew angeblich Nazis regieren, waren von Anfang an eine zynische Verdrehungen der Realität. Aber nun haben wir Klarheit: Putin hat gesagt: Wir wollen – wie Peter der Grosse – Gebiete erobern und uns einverleiben – Gebiete, von denen Putin glaubt, dass sie Russland gehören.
Er will also mit Gewalt einem Nachbarland Territorium wegnehmen. Das ist eine Zeitenwende: In Europa haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg gedacht, dass wir solche imperialen Eroberungskriege hinter uns haben.
Putin macht sich also zu einem Peter dem Grossen, die Ukraine hingegen macht sich derzeit kommunikativ eher klein: Von Präsident Selenski kommen derzeit eher pessimistische Einschätzungen der Lage. Wie interpretieren Sie diese neue Tonart?
Da kommen verschiedene Dinge zusammen. Erstens ist die Lage an der Front für die Ukraine wirklich schwierig. Zweitens gibt es eine grosse Angst in Kiew, dass der Westen müde wird, die Aufmerksamkeit nachlässt und die Ukraine am Ende alleine dasteht. Und drittens gilt in jedem Krieg: Zu viel Waffen kann man nie haben, schon gar nicht in so einem grossen Krieg. Also kämpft Selenski mit seinen täglichen Auftritten auch um Aufmerksamkeit im Ausland.
Es gibt eine grosse Angst in Kiew, dass der Westen müde wird, die Aufmerksamkeit nachlässt und die Ukraine am Ende alleine dasteht.
Gewinnen die russischen Truppen tatsächlich schrittweise die Oberhand?
So generell würde ich das nicht sagen. Aber vor allem im Donbass geraten die Ukrainer unter Druck. Die Rede ist davon, dass Russland zehnmal mehr Artilleriegeschütze hat als die Ukraine und auch ein Vielfaches an Munition. Gegen eine solche Feuerwalze kann niemand auf Dauer bestehen. Es kann also sein, dass Selenski etwas übertreibt, um die Aufmerksamkeit des Westens zu erhalten. Aber es gibt Berichte von sehr hohen Verlusten, von zu wenig Munition und dass Soldaten in den Schützengräben nur warten können, bis die Russen aufhören zu schiessen. Man hat den Eindruck, dass tatsächlich die Russen im Vorteil sind.
Ist es also ein Wettlauf mit der Zeit – braucht die Ukraine mehr Waffen aus dem Westen?
Ja, zweifellos, wenn sie gegen Russland langfristig bestehen will. Im Moment sieht es so aus, dass dieser Krieg erst endet, wenn eine Seite keine Munition oder keine kampffähigen Soldaten mehr hat. Es ist also ein Abnutzungskrieg, der Tod und Zerstörung bringt.
Angesichts der Zerstörung: Nimmt der Druck auf Selenski zu, sich zu einem Kompromiss bereitzuerklären?
Ich bin gerade aus Kiew zurückgekehrt und ich habe in der Ukraine niemanden getroffen, der gegenüber Russland auch nur den kleinsten Kompromiss machen will. Für die Ukrainer ist es ein Krieg um die Existenz und die Existenz des ukrainischen Volkes.
Es geht den Ukrainern ums Überleben als Nation – darum gibt es wenig Spielraum für Kompromisse.
Diese Befürchtungen sind nicht unbegründet. Denn Putin sieht sich ja als Peter den Grossen, der sich die Ukraine einverleiben will. In den besetzten Gebieten setzen die Russen diese Politik auch um: Dort wird der russische Rubel eingeführt, russische Schulbücher und russische Propaganda-Medien. Es gibt einen enormen Russifizierungs-Druck, nichts Ukrainisches soll übrigbleiben. Es geht den Ukrainern ums Überleben als Nation – darum gibt es wenig Spielraum für Kompromisse.