Oleksi Savvo ist ein Mann mit traurigen Augen. Und auch was er erzählt, ist traurig. Aber der Arzt im blauen Doktoren-Kittel erzählt ganz nüchtern, wie ein Chronist:
Am 24. Februar begann der Krieg. Wir kamen alle zur Arbeit – da hörte man schon Explosionen. Zu der Zeit hatten wir etwa 300 Kinder bei uns. Wir versuchten, möglichst viele von ihnen nach Hause zu schicken – und diejenigen, die nicht nach Hause konnten, brachten wir in den Keller. Dort ist es sicherer.
Hauptsache weg von der Front
Savvo ist amtierender Chefarzt der Charkiwer Kinderklinik. Das Spital liegt am nordöstlichen Stadtrand in einem idyllischen Park. Schon am zweiten Kriegstag schlagen die ersten Geschosse ein. «Es gingen etwa hundert Fenster zu Bruch. Wir fanden auf dem Gelände 23 Krater und ganz viele kleine Splitter, alle gleich gross. Experten sagen, das sei Streumunition gewesen.»
Streumunition ist gemacht, um möglichst viele Menschen zu töten. In der Kinderklinik von Charkiw kommt wie durch ein Wunder niemand zu Schaden. Die kleinen Patienten werden so schnell wie möglich in andere Spitäler, andere Städte evakuiert – Hauptsache weg von der Front.
Doktor Savvo steht jetzt auf der Rückseite des Spitals neben einem Krater. Hier hat eine russische Rakete des Typs Uragan eingeschlagen. Savvo zeigt auf die verheerenden Schäden am Gebäude: alle Fenster sind zerbrochen, Teile der Fassade runtergefallen. Besonders hart getroffen hat es die Spitalkantine: ein Bild der Zerstörung.
«Spielt es eine Rolle, ob es Absicht war?»
Das Gelände des Spitals ist stets unter ukrainischer Kontrolle geblieben, die Russen konnten es nicht erobern. Was denkt Savvo, wurde das Krankenhaus absichtlich beschossen? «Ich bin kein Militär, ich weiss es nicht. Und: spielt es überhaupt eine Rolle? Fakt ist: hier wurde ein Kinderspital angegriffen.»
Oleksi Savvo, der Arzt, ist Naturwissenschaftler. Ihn interessieren Fakten, nicht Mutmassungen. Nun führt der Chefarzt ins Innere des Gebäudes. Denn allen Zerstörungen zum Trotz arbeitet die Klinik weiter – einfach auf Sparflamme, bloss in den unteren Stockwerken.
Die kleinen Patienten werden vor allem ambulant behandelt – hinter verbarrikadierten Fenstern. Denn: Beschuss ist jederzeit möglich. Die ukrainische Armee hat die Russen zwar von der Stadt weggetrieben, aber die Front ist dennoch nur wenige Kilometer entfernt. Immer wieder hören die Ärztinnen und Patienten Artilleriegefechte in der Ferne.
Besondere Fälle werden in der Klink sogar stationär aufgenommen. Auf der Frühgeborenen-Station liegen ein paar winzige Kinderchen, sie sehen aus wie kleine Püppchen, im Korridor. Hier ist es sicherer, falls draussen wieder eine Granate einschlägt.
Kriegsversehrte Metropole
Diejenigen stationären Patienten, die mobiler sind, verbringen die Nacht sogar im Keller – dort haben Savvo und sein Team ein provisorisches Notlager eingerichtet, wo auch das Personal übernachtet.
Die Millionenstadt Charkiw ist schwer gezeichnet vom Krieg. Nicht nur das Kinderspital, sondern auch viele Wohnhäuser wurden zerstört. Entsprechend sind viele Menschen geflohen, nicht einmal die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner ist zurzeit in der Stadt. Vor allem Frauen und Kinder sind weg.
Doktor Savvo aber denkt schon an die Zeit nach dem Krieg: «Wir werden das Spital wieder herrichten. Und wenn der Beschuss aufhört, kehren auch die Kinder zurück und werden hier wieder Normalbetrieb haben.»