George Orwell liegt im rostigen Flugzeughangar, eingeklemmt zwischen Shakespeare und Grass in einer Kiste. Er wartet darauf, zu einem Tierarzt gebracht zu werden. Denn dieser hat bei Lauren Giles kürzlich einige Meter animalische Literatur bestellt.
Giles betreibt auf dem Ford Airfield im südenglischen Sussex ein Antiquariat. Ursprünglich arbeitete sie als Buchhalterin in einer Recycling-Firma. Dass Bücher einfach im Altpapier landen, fand sie schade und gründete die Firma «Decor Books».
Dutzendware ab 30 Franken pro Meter
Wer seine Bücher im Flugzeughangar kauft, dem ist ziemlich egal, was Orwell, Shakespeare oder Günter Grass geschrieben haben. Allein die Verpackung, die Hülle, der Schein zählt.
Liebhaber-Exemplare kosten um die 600 Pfund pro Meter. Oft sogar eher mehr, je nach Zustand.
Die Tierklinik hat nach Büchern gefragt, die Tiere im Titel haben, Otter, Elefanten, Meerestiere, wilde Tiere oder eben «Animal Farm» von Orwell. Egal was. Hauptsache 20 Meter klassische Literatur mit Tieren als Dekoration für den Empfangsraum.
Dutzendware gibt es ab 30 Franken pro Meter. Tiefer in die Tasche greifen muss man für viktorianische Leinenbände, in Ziegenleder gebundene Bücher oder Sammler-Stücke aus Pergament. Oft handelt es sich um Parlamentsbeschlüsse. Giles: «Solche Liebhaber-Exemplare kosten um die 600 Pfund pro Meter. Oft sogar eher mehr, je nach Zustand.»
Neues Kundensegment wegen Pandemie
Vor Ausbruch des Coronavirus belieferte Giles mit ihrer Firma «Decor Books» Filmsets, Cafés und Hotels; sie brauchten Bücher als Hintergrundschmuck.
Die Pandemie – und mit ihr das Homeoffice – brachten Giles ein neues Kundensegment: Menschen, die zu Hause arbeiten und bei Videokonferenzen einen guten Eindruck hinterlassen wollen. Die zeigen wollen, wer sie sind und was sie interessiert – oder zumindest diesen Anschein erwecken möchten.
«Sie wären ziemlich überrascht, wenn Sie wüssten, wer unsere Kundinnen und Kunden sind», sagt sie. Sie beliefere Wissenschaftlerinnen, Unternehmer, aber auch einige Politiker.
Was Hochstapler auffliegen lässt
Der Erfolg von Giles' Geschäftsmodell zeigt: Das Buch bleibt offenbar auch im digitalen Zeitalter ein Symbol für Bildung und Belesenheit. Doch Buch ist nicht gleich Buch. Fünf Meter Donald-Duck-Taschenbücher sind nicht dasselbe wie drei Meter Shakespeare. Lauren Giles rät ebenfalls davon ab, Bücher nach Farbe oder Grösse aufzureihen – dies könnte die Glaubwürdigkeit der Belesenheit und geistigen Tiefe des Scheinlesers untergraben.
Ignorieren können diese Tipps Leute, die Bücher als reines Dekorationsmaterial verwenden – abgestimmt auf die Farbe der Vorhänge oder auf eine bestimmte Regalhöhe. «Männer legen allenfalls noch Wert darauf, dass die Bücher eher maskuline Themen behandeln wie Jagen, Fischen oder Schiessen», sagt Giles. Gelegentlich müsse ein ganz schmales Regal gefüllt werden. «Dann müssen wir einige Meter sehr kleine und trotzdem farblich passende Bücher liefern.»
Geschäftsmodell dem Virus angepasst
Wie sich das Geschäft mittelfristig entwickelt, ist für Lauren Giles schwierig abzuschätzen. Einige Virologen prognostizieren eine erneute Ansteckungswelle im Herbst. Homeoffice mit Videokonferenzen könnte deshalb weiterhin zum Arbeitsalltag gehören. Um ihrer Kundschaft in dieser unsicheren Situation entgegenzukommen und sie vor Fehlinvestitionen zu bewahren, hat Giles ihr Geschäftsmodell angepasst: Man kann Orwell, Shakespeare und Grass in Sussex künftig auch mieten.