Was läuft schief in Argentinien? Die Landwirtschaft produziert genug Nahrungsmittel und trotzdem droht Menschen der Hunger. SRF-Korrespondentin Karen Naundorf erklärt, wieso es so ist.
SRF News: Woran merkt man die Krise im Alltag?
Karen Naundorf: Es ist nicht zu übersehen, dass immer mehr Menschen auf der Strasse schlafen. In Spitälern werden zum Teil Operationen verschoben, weil Prothesen in Dollar bezahlt werden müssen und damit zu teuer geworden sind. Und was das Essen angeht: Immer mehr Menschen gehen in Suppenküchen. Da gibt es zum Teil inzwischen Wartelisten. Allerdings ist Reichtum in Argentinien sehr ungleich verteilt. Deshalb sieht man in der Innenstadt von Buenos Aires noch vollbesetzte Restaurants und hat vielleicht den Eindruck, dass es nicht so schlimm sei. In den Vorstädten ist es aber anders. Eine Studie hat gezeigt, dass viele Menschen da schon seit Monaten nur noch einmal am Tag essen.
Die Regierung hält es nicht für notwendig, den Notstand auszurufen.
Die Inflation liegt bei mehr als 50 Prozent. Wie gehen die Menschen damit um?
Ich habe in den Vorstädten Frauen getroffen, die einen Tauschmarkt organisieren. Davon gibt's im Grossraum Buenos Aires inzwischen mehr als 200. Man tauscht etwa eine gebrauchte Jeans gegen eine Flasche Speiseöl. Oder jemand backt eine hübsch verzierte Geburtstagstorte und bekommt dafür ein paar gebrauchte Turnschuhe. Das wird vorab via Facebook oder Whatsapp abgemacht. Es machen viele Leute mit, die noch einen Job haben, aber mit ihrem Gehalt nicht mehr klarkommen.
Im argentinischen Kongress wird in diesen Tagen ein möglicher Nahrungsmittel-Notstand beraten. Was würde das bewirken?
Auf jeden Fall würde es mehr staatliche Unterstützung für Essen an Schulen und für die Armenspeisungen geben. Die Initiative kommt von der Opposition, denn die Regierung hält es nicht für notwendig, den Notstand auszurufen. Sie hat im August für einige Grundnahrungsmittel wie Milch oder Reis die Mehrwertsteuer reduziert, und andere Produkte ganz davon befreit.
Viele Menschen in Argentinien macht es fassungslos, dass über Hunger geredet wird. 440 Millionen Menschen könnten mit dem überleben, was die Landwirtschaft in Argentinien produziert.
Viele der 44 Millionen Menschen in Argentinien macht es fassungslos, dass über Hunger geredet wird. 440 Millionen Menschen könnten mit dem überleben, was die Landwirtschaft produziert. Der interne Markt steht in Konkurrenz zu den Exporten. Die Preise in den Supermärkten sind im Vergleich zu dem, was die Argentinier verdienen, recht hoch.
Die Regierung wollte die Kapitalflucht begrenzen und hat festgelegt, dass man nur noch eine beschränkte Anzahl Peso in Dollar umtauschen kann. Was bringt das?
Die Beschränkungen hatten zuerst eine Art Déjà-vu-Effekt. Viele fühlten sich an die Staatspleite von 2001 erinnert. Viele Menschen haben ihr Dollar-Guthaben abgehoben und stecken das Geld lieber unter die Matratze. Doch obwohl die Kapitalflucht massiv ist, sind diese Devisenbeschränkungen immer noch recht grosszügig. Jeder Argentinier darf im Monat bis zu 10'000 US-Dollar eintauschen.
Mit welchen Massnahmen könnte Argentinien aus dieser Krise finden?
Die Regierung ist mit dem Schuldendienst in Verzug und hat auch bereits Versuche unternommen, die Schulden zu restrukturieren. Man will mit dem Internationalen Währungsfonds verhandeln und so etwa Fristen verlängern, damit Zahlungen später fällig werden. Mit anderen Worten: Das Land ist bereits jetzt insolvent. Damit der Peso einigermassen stabil bleibt, leistet die Zentralbank schon lange täglich Stützkäufe. Das geht auf Kosten der Reserven. Man kauft sich so Zeit und verschiebt das Problem in die Zukunft.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.