Der rasche Vormarsch der syrischen Rebellengruppen ins Zentrum der Millionenstadt Aleppo sei ein Schwächezeichen von Machthaber Bashar al-Assad mit noch nicht absehbarem Ausgang, sagt Nahostexpertin Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.
SRF News: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Syrien ein?
Bente Scheller: Die aktuelle Entwicklung kommt auch für viele Beobachter überraschend. Die Rebellen der Provinz Idlib sind nach Aleppo vorgerückt und haben die Stadt anscheinend über Nacht unter ihre Kontrolle gebracht. Die Offensive kam offensichtlich unerwartet, und es gab nach bisherigen Kenntnissen kaum Widerstand von den Truppen des Assad-Regimes.
Assad ist auf sich allein gestellt, und seine Kräfte schaffen es nicht, die Rebellen zurückzudrängen.
Warum kommt der Angriff der Rebellen gerade jetzt?
Dieser Vorstoss war zum einen von langer Hand vorbereitet. Dass die Rebellen darauf hintrainieren, beobachteten wir schon seit Monaten oder gar Jahren. Zum anderen ist der syrische Machthaber Assad schwächer aufgestellt als in früherer Zeit. Seine grossen Unterstützer Russland und der Iran sind mit ihren eigenen Kriegen und Problemen beschäftigt: Moskau in der Ukraine, der Iran und die massgeblich geschwächte verbündete Hisbollah im Konflikt mit Israel. Assad ist auf sich allein gestellt, und seine Kräfte schaffen es nicht, die Rebellen zurückzudrängen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die in Idlib seit längerem herrschenden islamistischen Rebellen der HTS mit den Kurden verständigen.
Wird in Syrien ein neuer Krieg ausbrechen?
Im Moment steht noch zu viel in den Sternen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die in Idlib seit längerem herrschenden islamistischen Rebellen der HTS mit den Kurden verständigen. Denn die syrischen Rebellen werden von der Türkei unterstützt und stellen quasi einen Gegenpol zu den kurdischen Kräften dar. Möglicherweise werden sich diese aber in Syrien politisch arrangieren können. Ebenso offen ist, was mit dem Rest des Landes passiert. Ganz im Süden gab es in den letzten Wochen immer wieder Proteste in den Provinzen Suweida und Daraa. Wenn sich das auch noch akzentuiert, wird es für Assad möglicherweise eng.
Was bedeutet die zusätzliche Instabilität für die Region?
Es gibt dadurch noch viel mehr Unwägbarkeiten. Auf jeden Fall aber ist Assad als einer der iranischen Verbündeten jetzt noch stärker unter Druck. Bereits vorher wurde sichtbar, dass Israel seine Angelegenheiten in die eigene Hand nimmt. Israel ist auch auf syrischem Territorium in den letzten Jahren hunderte von Luftangriffen gegen iranische Verbündete geflogen. Ob sich hier noch eine weitere Eskalation ergibt, ist nicht absehbar. Mit Assad wäre ein Regime in Gefahr, dass sich über lange Jahre des Konflikts stark behaupten konnte und zu dem arabische Staaten gerade eine Normalisierung suchten.
Das Gespräch führte Michael Wettstein.