Über dem Bundeshaus geht heute ein Donnerwetter nieder: Wieder einmal «lädt» die SVP zu einer ausserordentlichen Session zur Asylpolitik. Bei einer «Chropfleerete» wird es an der Sonderdebatte im Nationalrat aber nicht bleiben.
Damit reiht sich die Schweiz ein in eine gesamteuropäische Entwicklung: Von London über Berlin bis nach Rom rumort es, viele Regierungen verschärfen ihren Kurs. Unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten über die Zeitenwende in der europäischen Asylpolitik.
Grossbritannien: «Take back control» endet im Kontrollverlust
Patrik Wülser: Nach Afrika ausschaffen. Auf alte Ölplattformen abschieben. An abschreckenden Ideen hat es der britischen Regierung in der Migrationspolitik in den vergangenen Jahren nicht gefehlt. Gescheitert sind sie alle. Als eine der ersten Amtshandlungen hat der neue Premierminister Keir Starmer das Ruanda-Projekt seines Vorgängers gekippt.
In enger Zusammenarbeit mit den Nachbarn auf dem europäischen Festland sollen die Menschenschmuggler-Banden zerschlagen werden. Viel Zeit bleibt Starmer nicht. «Take back control» lautete der Slogan, mit dem die Tories den Britinnen und Briten vor einigen Jahren den Brexit schmackhaft machten. Was folgte, war eher ein Kontrollverlust. Die Einwanderung nahm nicht ab, sondern stieg weiter an. Genauso wie der Unmut in der Bevölkerung.
Dänemark: Harte Gangart als Modell für Europa
Karina Rierola: Dänemark fährt einen strikten Kurs in der Asylpolitik – der über fast alle Parteigrenzen hinweg und von einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung getragen wird. Das nordische Land ist vergleichsweise restriktiv beim Familiennachzug, unterhält vielkritisierte Rückführungszentren und pocht auf Rückführungen im Dublin-System. Dänemark verfolgte lange auch das Projekt von Asylzentren in Ruanda – erfolglos. Es ist seit 2022 auf Eis gelegt.
Dänemark sah seinen grosszügigen Wohlfahrtsstaat bedroht, die Rechtspopulisten griffen die Ängste auf, hatten damit lange Erfolg. Bis auch die Sozialdemokratie zum Schluss kam, dass Integration nur bei geringerer Einwanderung gelinge, sonst drohe Segregation. Das, so die Argumentation, gelte es ebenso zu verhindern wie Tote im Mittelmeer und Schlepperbanden. Lange Jahre kritisiert, ist Dänemarks harte Gangart inzwischen zum Modell für andere europäische Länder geworden.
Deutschland: Überbietungswettbewerb getrieben von rechts
Simone Fatzer: Grenzkontrollen zu allen Nachbarstaaten und Abschiebeflug nach Afghanistan: Die SPD-geführte Regierung setzt um, was sich dieselben Leute vor Jahren kaum hätten vorstellen können. Bezahlkarten für Asylsuchende und beschleunigte Ausschaffungen wurden eingeführt, Asylverfahren in Drittstaaten werden geprüft.
Die Migration verschärft die durch die Versäumnisse der Politik verursachten Mängel: Von Wohnungen bis Lehrerinnen. Die Schlüsse, die man daraus zieht: Abschottung. Selten ist die Rede von Investitionen in Bildung, Integration oder Prävention vor Radikalisierung im Netz. Die schrillen Forderungen der AfD setzen den Ton. Sie prägt die Asylpolitik auch ohne Regierungsbeteiligung.
Spanien: Der andere Weg
Beat Vogt: In Sachen Migrationspolitik tanzt Spanien aus der Reihe. Die Regierung unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez setzt nicht in erster Linie auf stärkere Abschottung und vermehrte Sicherung der Grenzen. Und dies, obwohl die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die illegal nach Spanien einreisen, dieses Jahr stark gestiegen ist.
Als bestes Mittel gegen die illegale Migration sieht Sánchez die legale Migration. Die spanische Wirtschaft sei auf ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter angewiesen, sagte er Ende August in einer vielbeachteten Rede in Mauretanien: «Migration bedeutet für Spanien Reichtum, Entwicklung und Wohlstand.»
Aber auch Sánchez will nicht einfach die Grenzen öffnen. Die Abkommen, die er mit den westafrikanischen Staaten abschloss, beinhalten auch Massnahmen für den Kampf gegen Schlepperbanden. Zudem will auch der spanische Ministerpräsident illegal Eingereiste in ihre Herkunftsländer rückführen lassen.
Italien: Weniger Migranten dank Tunesien
Franco Battel: Italien hat es innert Jahresfrist geschafft, die Zahl ankommender Migranten oder Flüchtlinge um mehr als die Hälfte zu reduzieren. Dies liegt vor allem an Tunesien. Von dort kamen seit Anfang Jahr deutlich weniger Hilfesuchende an. Grund dafür dürften die Abkommen sein, die Italien und die EU mit dem tunesischen Machthaber Kais Saied abgeschlossen haben.
Tunesien bekommt viel Geld von der EU und hält im Gegenzug Leute zurück. Offenbar funktioniert das. Allerdings weisen Menschenrechtsorganisationen darauf hin, dass Migrantinnen und Migranten in Tunesien zum Teil schwer misshandelt werden. Zudem weichen viele auf die westliche Route über Spanien aus.
Österreich: Grundsatzdebatte um Grundrechte
Peter Balzli: Die Stimmung in Österreich hat gedreht. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg gewann die rechtsnationalistische FPÖ im Juni eine Wahl. Und auch im laufenden Wahlkampf liegt die FPÖ in allen Umfragen in Führung. Sie fordert einen totalen Asylstopp.
Die Folge: Was einst nur die FPÖ forderte, will jetzt auch die Volkspartei von Kanzler Karl Nehammer – nämlich eine Änderung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Genfer Flüchtlingskonvention.
Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) präzisiert: Die Grundrechte angreifen wolle in ihrer Partei niemand. Das Ziel sei vielmehr eine «breite Debatte». Was Edtstadler hofft: Neue Rechtsprechung soll Abschiebungen in Länder erleichtern, in die momentan nicht abgeschoben wird, etwa Afghanistan.