Italien hat den Asylnotstand ausgerufen, weil derzeit so viele Migrantinnen und Migranten übers Mittelmeer kommen wie lange nicht mehr. Allein seit Anfang Jahr melden die Behörden 30'000 Menschen, viermal mehr als in der entsprechenden Vorjahresperiode. Ohne gesamteuropäische Lösung sei kein Ausweg in Sicht, sagt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Universität Wien.
SRF News: Wie schätzen Sie aktuell die Lage in Italien ein?
Judith Kohlenberger: Die Ausrufung eines Ausnahmezustands ist nicht neu, wenn es um Asyl und Migration geht. Dass damit jetzt mehr Geld zur Verfügung steht, hat aber auch positive Effekte. Denn es können mehr Aufnahmekapazitäten geschaffen werden. Manche Regionen Italiens haben das bitter nötig, um auch vulnerable Gruppen mit Frauen und Kindern unterzubringen. Zugleich kann stärker durchgegriffen werden. Mit der Gefahr, dass Einzelprüfungen nicht mehr korrekt durchgeführt und Menschen vorschnell abgeschoben werden.
Die Menschen werden sich von leicht geänderten italienischen Regeln nicht abhalten lassen.
Kann das Notrecht dazu beitragen, die Lage in Italien zu beruhigen?
Ich gehe davon aus, dass die Auswirkungen des Ausnahmezustands auf Migrationsströme in Richtung Italien nur sehr gering sein werden. Die Menschen nehmen mit der gefährlichen Route übers Mittelmeer schon jetzt massive Risiken auf sich und werden sich wegen leicht geänderter italienischer Regeln nicht abhalten lassen. Wirksam dürfte das Signal gegenüber der eigenen Bevölkerung sein. Italiens Rechtsregierung muss harte Kante zeigen. Zugleich ist es ein Signal an die EU, dass Italien Solidarität und Hilfe braucht.
Warum kommen aktuell so viele Menschen übers Meer nach Italien?
Da ist der klassische saisonale Effekt mit den steigenden Temperaturen, welcher die Migration über den Land- und Seeweg wieder ankurbelt. Seit letzten Sommer ist zudem die verstärkte Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland kaum mehr passierbar. Die Routen verlagern sich hin zum wesentlich längeren und gefährlicheren Seeweg. Es gibt auch Überfahrten aus der Türkei bis nach Italien.
Was könnte die EU tun, um die Lage zu entschärfen?
Brüssel hat seit einigen Jahre viele gute Vorschläge auf dem Tisch. Bei dem im letzten Herbst vorgestellten Migrationspaket gibt es aber bisher kaum Bewegung. Ein Eckpfeiler wäre eine faire und solidarische Verteilung aller ankommenden Flüchtenden – weg von Mitgliedstaaten mit EU-Aussengrenzen hin auch zu den Binnenländern. Doch einer Einigung kommt man nicht näher, weil Länder wie Ungarn oder Polen einem Verteilschlüssel wohl nie zustimmen werden.
Das Allerwichtigste gegen das Sterben im Mittelmeer wären legale Fluchtrouten.
Gleichzeitig bräuchte es ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit gemeinsamen Verfahren, damit die Anerkennungs- und Ablehnungsquoten in allen EU-Staaten gleich sind und Länder nicht anhand der Quoten ausgesucht werden. Doch das Allerwichtigste gegen das Sterben im Mittelmeer wären legale Fluchtrouten. Dass Menschen gar nicht mehr irregulär kommen müssen. Dies würde auch die Bilder von Kontrollverlust verhindern, welche die Aufnahmebevölkerung verängstigen. Wir müssen hin zur geordneten, legalen Aufnahme. Dazu braucht es auch Resettlement-Programme im grossen Stil.
Kurzfristig sieht das nach einer ausweglosen Situation aus.
Wir verharren aktuell in der absoluten Symptombekämpfung. Das liegt wohl unter anderem daran, dass gewisse politische Akteure auch auf europäischer Eben gar nicht an der Lösung der Migrationsfrage interessiert sind, sondern viel eher das Problem brauchen, um politisch Stimmung zu machen.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.