«Nicht vergleichbar mit ernsthaften Reaktor-Unfällen»: Mit diesen Worten durchbrachen die russischen Behörden die mehrtägige Stille nach dem Atomunfall am Weissen Meer. Doch noch immer ist unklar, was genau sich vor zwei Wochen bei einem Raketentest in Nordrussland zugetragen hat.
«Die Informationen fliessen nur spärlich, und wenn sie fliessen, sagen sie einem kaum etwas», erklärt ARD-Korrespondentin Sabina Stöhr. Bekannt ist: Der Unfall hat sich beim Test eines Raketenantriebs auf einer Plattform im Meer zugetragen. Bei dessen Start kam es zu einer Explosion.
Eingeübtes Stillschweigen
Mehrere Tage später räumte die russische Wetterbehörde ein, dass es eine bis um das 16-fach erhöhte Radioaktivität in der Region gab. Der spärliche Informationsfluss lässt die Spekulationen ins Kraut schiessen. Unter den Menschen, die in der abgelegenen Region leben, herrsche Unruhe, berichtet Stöhr.
Auch wenn bekannt sei, dass auf dem Gelände Tests mit Radioaktivität durchgeführt würden. «Als die Leute von der Explosion erfahren haben, haben sie erstmal ihren Geigerzähler geschnappt, der zu jedem Haushalt gehört wie anderswo die Bohrmaschine.» Denn die Bewohner der Region wüssten: Offizielle Informationen sind mit Vorsicht zu geniessen.
Inzwischen haben sich besorgte Ärzte an die Medien gewandt. Gegenüber BBC Russia berichteten zwei Mediziner anonym, dass über 90 Menschen in einem Spital in der Hafenstadt Arkhangelsk Kontakt mit den Opfern gehabt hätten. Ohne dass sie vom Militär über Kontaminationsrisiken aufgeklärt worden seien.
Stöhr hält die Berichte für glaubwürdig. Für die Nicht-Kommunikation macht sie eine «seit Jahrzehnten eingeübte stillschweigende Übereinkunft» verantwortlich: Die Behörden gingen bequem davon aus, dass die Ärzte schon wüssten, dass in der Region mit Radioaktivität hantiert werde – und entsprechend vorbereitet seien.
Der aktuelle Unfall hat sicher nicht die Grössenordnung von Tschernobyl.
Dass Ärzte nun die Öffentlichkeit suchten, sei neu: «Sie erklärten gegenüber Journalisten, dass sie unterschreiben mussten, nichts über den Vorfall zu sagen. Oder sie machten öffentlich, dass es ihnen an Wertschätzung fehlt.» Insofern sieht die Korrespondentin in Russlands Norden Kräfte am Werk, die im ganzen Land erwachen: «Die Menschen sind es leid, wie die Führung mit ihnen umgeht. Sie fordern Transparenz und wollen, dass Gesetze eingehalten werden.»
Gefühl, ausgeliefert zu sein
Ausserhalb von Russland werden Parallelen zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gezogen. Auch damals beschwichtigten die Behörden, bis sich das wahre Ausmass der Katastrophe nicht mehr verschleiern liess. «Tatsächlich fühlt man sich etwas daran erinnert, weil auch jetzt keine Transparenz geschaffen wird», sagt Stöhr.
Vergleiche zum Supergau von damals zu ziehen, hält die Journalistin aber für abenteuerlich: «Der aktuelle Unfall hat sicher nicht die gleiche Grössenordnung.» Schliesslich ist die finnische Grenze nur wenige hundert Kilometer entfernt – ein Tschernobyl 2.0 liesse sich kaum unter den Teppich kehren.
Nichtsdestotrotz mache der Vorfall Angst: «Uns wird bewusst, wie ausgeliefert wir sind, weil wir keinerlei Informationen bekommen.» Dies sei auch nicht verwunderlich, weil es um einen fehlgeschlagenen Militärtest gehe: «Da ist die Geheimhaltung naturgemäss sehr gross.»