Der Auftritt im Fernsehen vom 23. März 2020 des damaligen Premierministers Boris Johnson tönt aus heutiger Sicht bereits fast ein bisschen surreal: «Ich muss den Menschen in Grossbritannien eine sehr einfache Anweisung geben: Sie müssen zu Hause bleiben.»
Lange hatte die britische Regierung gezögert und auf Herdenimmunität gesetzt, doch dann verhängte sie einen rigorosen Lockdown. Innerhalb von Stunden stand das öffentliche Leben im Vereinigten Königreich still. Schulen, Läden, Sportanlagen und Pubs wurden geschlossen.
Das grosse Sterben konnte die Regierung aber trotzdem nicht verhindern. Die morbiden Lockdown-Briefings der Regierung gehörten fortan zum täglichen Ritual in den Abendnachrichten. Downing Street kommunizierte täglich, wie viele Menschen am Coronavirus erkrankt und gestorben waren. Im Frühling 2020 waren es rund 1000 Personen pro Tag.
Ungetestet ins Altersheim
Um in den Spitälern Platz zu schaffen, wurden betagte Menschen ungetestet in Altersheime transferiert. Dort konnte sich das Virus ungehindert ausbreiten.
Diesem zum Opfer fiel auch Nomi Philipps Mutter. Sie lebte beim Ausbruch der Pandemie in einem Pflegeheim: «Das Personal in den Pflegeheimen hatte zu Beginn der Pandemie keine Gesichtsmasken. Später gab es zwar Masken – doch bereits nach einer Woche war der Vorrat fast aufgebraucht. Deshalb gab es für jede Pflegeperson nur noch eine einzige Maske pro Tag. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis meine Mutter mit dem Virus angesteckt wurde.»
Hohe Infektionsrate kein Zufall
Niemand weiss bis heute genau, wie viele Menschen damals in den Alters- und Pflegeheimen an den Folgen einer Corona-Erkrankung verstorben sind. Klar sei jedoch, dass die hohe Ansteckungsrate kein Zufall gewesen ist, sagt Philipps, die heute die Hinterbliebenenorganisation der Opfer präsidiert.
Pflegeangestellte erzählten damals, wie sie aus alten Vorhängen Schutzanzüge schneiderten und in Kosmektikstudios um Schutzmasken betteln mussten. Es sei eine traumatische Erfahrung für das Pflegepersonal, aber ebenso für die Angehörigen gewesen, sagt Nomi Philipps.
Angehörige wünschen sich von der Untersuchungskommission Antworten, weshalb in Grossbritannien während der Pandemie so viele Menschen sterben mussten: «Fast alle Menschen in Grossbritannien sind von diesem Drama in irgendeiner Art betroffen. Viele haben unter dramatischen Umständen Angehörige verloren und das Land ist bis heute mit einer endemischen Trauer konfrontiert. Sie ist bis heute nie aufgearbeitet worden.»
Zeugen werden befragt
Nun läuft die Aufarbeitung. Ein Untersuchungsausschuss unter der Leitung der ehemaligen Richterin Baroness Hallett wird in den kommenden Monaten hunderte von Zeugen befragen und Tausende von Dokumenten überprüfen. Die Untersuchung könne das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber sie wolle den Millionen von Betroffenen am Ende drei Fragen beantworten können, so Baroness Hallett: «War Grossbritannien auf eine Pandemie genügend vorbereitet? Waren die Massnahmen der Regierung richtig und zweckmässig? Und insbesondere, was können wir aus den Ereignissen für die Zukunft lernen?»
Rasche Antworten sind nicht zu erwarten. Die Untersuchung endet im Sommer 2026.