«Ich weiss nicht, wie ich meine Kinder ohne diese Hilfe ernähren könnte», sagt Dana Rusen geradeheraus. Wir treffen die knapp 30-jährige Frau im Londoner Vorort Harrow bei der Ausgabe von kostenlosen Lebensmitteln durch ein lokales Hilfswerk.
Dana Rusen ist alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Buben. Der eineinhalbjährige Matthew sitzt im Kinderwagen und blickt mit grossen Augen auf die Kartoffeln, Äpfel und Schokoriegel, die seine Mutter in die Hände gedrückt bekommt.
«Möchten Sie diesen Apfelsaft auch?», fragt die freiwillige Helferin von «London’s Communitiy Kitchen». Das Hilfswerk verteilt in Harrow jeden Freitagnachmittag während zwei Stunden Esspakete – an rund 500 Personen. Tendenz stark steigend.
Lebensmittelpakete für 15'000 Menschen
«So schlimm war es noch nie», sagt Hilfswerk-Gründer Taz Khan besorgt. Die rekordhohe Teuerung und die enormen Energiepreise brächten viele Menschen in Not. Khan: «Jede Woche kommen mehr Leute, die noch nie da waren und bisher ohne unsere Hilfe auskamen.»
Der 47-jährige Meisterkoch hat «London’s Community Kitchen» vor acht Jahren gegründet. Inzwischen versorgt er mit Dutzenden freiwilligen Helferinnen und Helfern wöchentlich rund 15'000 Menschen mit Lebensmitteln – in Harrow und drei weiteren Vororten im Westen Londons. Es sind Lebensmittel kurz vor dem Ablaufdatum, die von Grossverteilern gespendet werden.
Wachsende Zahl von Working Poors
Dana Rusen ist am Ende der Lebensmittelausgabe angekommen. Das Gepäckfach ihres Kinderwagens ist voll. An den Griffen des Wagens hängen weitere Taschen. «Ich bin sehr dankbar für die Hilfe», sagt die gebürtige Osteuropäerin, die vor mehreren Jahren zum Arbeiten nach Grossbritannien gekommen ist.
Sie arbeitet im Kundendienst einer Billigmode-Kette. Doch ihr Monatslohn reiche nicht, um für sich sowie ihre Söhne und ihre Mutter aufzukommen. «Mit diesen Lebensmitteln können wir nun eine Woche überstehen.»
Britische Hilfswerke beobachten, dass die Zahl der erwerbstätigen Armen zunimmt. Wie Dana Rusen geht inzwischen jede fünfte Person, die um Lebensmittelhilfe bittet, einer Arbeit nach. Das hat eine Auswertung des Trussell Trust ergeben – dem grössten britischen Hilfswerk, das rund 1300 Lebensmittelausgabestellen betreibt.
Unter den Bedürftigen sind inzwischen auch Pflegende in Ausbildung, Hilfslehrkräfte, Service-Angestellte oder Jugendarbeiterinnen und -arbeiter, die meist den minimalen Stundenlohn von umgerechnet 10.50 Franken verdienen. Damit leben sie an der Armutsgrenze.
Grossbritannien steht ein harter Winter bevor
Trussell Trust schlägt Alarm. Die Nachfrage nach Lebensmittelpaketen habe im Vergleich zum Vorjahr in den vergangenen sechs Monaten um ein Drittel zugenommen.
Seit April hat der Trust 1.3 Millionen Pakete verteilt, wie die Tageszeitung «The Guardian» schreibt. Und zugleich gehen die Einzelspenden zurück, weil die Inflation auch vielen regelmässigen Spenderinnen und Spendern zusetzen.
«Der Winter wird für viele sehr hart werden», sagt Taz Khan. Die enorme Teuerung und die hohen Energiepreise würden Millionen von Britinnen und Briten vor die Wahl stellen, entweder beim Heizen oder beim Essen zu sparen. Und schon jetzt müsse jedes vierte Kind im Land täglich auf eine Mahlzeit verzichten.