Nie zuvor hatte die UNO einen Generalsekretär mit so viel Erfahrung als Spitzenpolitiker wie António Guterres. Der 75-jährige Portugiese ist eloquent und instinktsicher. Und vorsichtig.
Doch nun löst seine Teilnahme am Gipfeltreffen der Brics-Staaten im russischen Kasan einen Entrüstungssturm aus. Am meisten empört ist verständlicherweise die ukrainische Regierung. Doch nicht nur sie spricht von einem Propagandasieg, den Guterres Putin ermögliche. Ähnliches ist von der EU und aus vielen westlichen Hauptstädten zu hören. Es ist auch der Tenor in westlichen Medien. Verbunden mit der Schelte: Beim Ukraine-Gipfel auf dem Bürgenstock habe er sich nicht sehen lassen.
Damit steht der UNO-Chef erneut unter heftigem Beschuss, nachdem ihn die Regierung Israels als antiisraelisch kritisiert und inzwischen gar zur Persona non grata erklärt hat.
Nicht-Teilnahme war keine Option
Guterres lässt ausrichten, seine Brics-Gipfelteilnahme entspreche seiner üblichen Praxis. Er nehme stets an Spitzentreffen wichtiger Staatengruppen wie den G7, den G20 und eben jenem der Brics teil. Das stimmt.
Für Guterres war also eine Nicht-Teilnahme in Kasan keine echte Option. Heftig kritisiert worden wäre er nämlich auch dafür, einfach nicht im Westen, sondern in anderen, mehrheitlich autokratisch regierten Ländern.
Die Kontroverse um Guterres zeigt, wie schwierig es für die UNO geworden ist, in einer Welt in Aufruhr ihre Rolle zu spielen. Sie gleicht einem Spagat: Einerseits soll die UNO die in ihrer Charta verbrieften Prinzipien verteidigen; eines der zentralen, das Verbot, andere Länder anzugreifen, hat Russland fundamental verletzt. Andrerseits ist die UNO das Abbild einer Welt, die alles andere als perfekt ist. Sie repräsentiert also auch Regierungen, die sich bloss verbal zur Charta bekennen, jedoch nichts halten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.
Die UNO und ihr oberster Repräsentant verkörpern sowohl Werte als auch die Wirklichkeit. Momentan passen diese schlecht zusammen.
Nur ein Satz zur Ukraine
Misst man Guterres Brics-Besuch an den UNO-Werten, ist er empörend. Misst man ihn an der Weltwirklichkeit, ist er unvermeidlich. Was man dem UNO-Generalsekretär hingegen vorwerfen kann – ja muss – ist, dass er seinen Auftritt am Hofe Putins nicht nutzte, um Klartext zum Ukrainekrieg zu sprechen. Zwar tat er das in den vergangenen zweieinhalb Jahren häufig. Doch ausgerechnet jetzt in Kasan blieb er kleinlaut. In seiner Rede vor den versammelten Brics-Staats- und Regierungschefs hörte man zur Ukraine einen einzigen Satz. Das grenzt an Arbeitsverweigerung.
Gewiss: Es allen einigermassen recht zu machen als UNO-Generalsekretär galt stets als schwierig. Angesichts der aktuellen enormen geopolitischen Spannungen ist es unmöglich geworden.