SRF News: Wie haben Sie die vergangene Nacht in Aleppo erlebt?
Karin Leukefeld: Ich habe vor allem schwere Kampfgeräusche gehört. Es wurde offenbar Artillerie eingesetzt. Ich hörte auch schwere Schnellfeuergewehre und spürte kräftige Erschütterungen, die Fenster wackelten. Hier kämpfen zwei offensichtlich gut ausgerüstete Seiten kräftig. Anders als in der Nacht auf Sonntag waren in der vergangenen Nacht aber keine Kampfjets unterwegs, gab es also keine Angriffe aus der Luft.
Wer kontrolliert welchen Teil der Stadt?
Ich habe mit einer internationalen humanitären Organisation gesprochen, die hier arbeitet. Weil sie versucht, die Bevölkerung vor allem mit Wasser zu versorgen, weiss sie relativ gut, wer was kontrolliert. Die Kämpfe und die Frontlinie verschieben sich dauernd – manchmal zwar nur um wenige hundert Meter, doch kann das in einer bewohnten Umgebung tausende von Menschen betreffen, die dann in ein anderes Gebiet fliehen. Es gibt Berichte aus der Bevölkerung, wonach plötzlich Vertriebene aus einem anderen Stadtteil auftauchen.
Sie sprachen auf der Strasse mit Personen, die schon jahrelang mit dem Bürgerkrieg leben. Was haben Ihnen diese Menschen erzählt?
Ich habe mit Menschen gesprochen, welche die letzten Jahre in einem von bewaffneten Gruppen kontrollierten Gebiet lebten, seit zwei Monaten nun aber nicht mehr. Und mit Menschen, die im Westteil der Stadt leben und fast täglich mit ihren Bekannten im Ostteil telefonieren. Für alle Familien und Zivilisten bedeutet der Krieg eine ungeheure Anspannung. Die Menschen sind erschöpft und müde. Sie wünschen sich, dass dieser Krieg endlich ein Ende hat.
In den Spitälern mangelt es an Personal, mehr als 30‘000 Ärzte und Krankenschwestern haben Syrien verlassen.
Können die Menschen mit dem Nötigsten versorgt werden?
Das ist sehr schwierig. Die humanitären Organisationen, die hier tätig sind – allen voran Unicef und das IKRK zusammen mit dem syrisch-arabischen Roten Halbmond –, versuchen die ihnen zugänglichen Gebiete täglich mit Essen und vor allem mit Wasser zu versorgen. Wenn sich die Frontlinie nun aber oft verschiebt, stehen sie täglich vor neuen Herausforderungen. Die Gebiete, die ausschliesslich unter Kontrolle der bewaffneten Gruppen stehen, werden von den bewaffneten Gruppen versorgt. Es handelt sich aber um eine sehr unzulängliche Versorgung. Das haben mir Menschen erzählt, die Angehörige in diesen Gebieten haben. Da, wo ich mich befinde, kontrolliert die syrischen Armee das Geschehen. Wenn ich hier über die Strasse an den Märkten vorbeigehe, habe ich den Eindruck, dass ich alles bekomme. Allerdings kostet die Ware sehr viel und ich weiss nie, ob sie am nächsten Tag auch noch zur Verfügung stehen wird.
Sie werden in Kürze ein Spital besuchen. Was erwarten Sie von diesem Besuch?
Mörsergranaten und Raketen verletzen täglich Menschen, auch in den Gebieten unter Kontrolle der Regierung. Jeden Tag gibt es Notfälle zu betreuen, es befinden sich viele Menschen in den Spitälern. Dort mangelt es an Personal; mehr als 30‘000 Ärzte und Krankenschwestern haben Syrien verlassen. Dennoch sind die Spitäler weiter intakt. Sie kriegen täglich zehntausende Liter Wasser und Medikamente vom IKRK geliefert. Das gilt auch für die Gebiete unter Kontrolle der bewaffneten Gruppen. Das IKRK hilft überall dort, wo es Zugang kriegt.
Dürfen die Menschen in Aleppo auf eine baldige Waffenruhe hoffen?
Sie wünschen sich das sehr. Aber die militärische Seite, die hier das Sagen hat, verhandelt noch nicht, sondern kämpft. Weder die bewaffnete Opposition noch die syrische Armee sind bereit, sich auf eine Waffenruhe einzulassen. Das hat strategische Gründe. Die einen wollen sich Gebiet sichern, die anderen wollen das verhindern. Die syrische Regierung hat aber gesagt, dass sie die Forderung der UNO grundsätzlich unterstütze. Die Frage ist nur wann.
Das Gespräch führte Andrea Christen.