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Ausschreitungen in Chemnitz Die Sache mit dem deutschen Rechtsstaat

Die Politik in Deutschland hat die Erosion des Rechtsstaats über Jahre zu wenig ernst genommen. Eine Analyse.

Dienstagnachmittag. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagt einen bemerkenswerten Satz: «Wir setzen das Gewaltmonopol des Staates durch.» Und er ergänzt: «Wir sind entschieden, diesen Kampf zu gewinnen – und wir werden ihn auch gewinnen.» Wie Hohn klingt schliesslich Kretschmers Fazit: «Der sächsische Staat ist handlungsfähig und er handelt».

Nicht einmal 24 Stunden zuvor hatte der sächsische Staat genau diesen Kampf verloren und sich als handlungsunfähig gezeigt.

Versagen mit Ansage

Die Ausschreitungen vom Montagabend in Chemnitz waren Gewalttaten mit Ansage gewesen. Jeder wusste, dass es nach der tödlichen Messerattacke auf einen Deutschen mit (laut Medienberichten) kubanischen Wurzeln und den rechtsextremen Ausschreitungen in der Folge erneut zu Gewalt kommen würde. Die Demonstration am Montag war angekündigt. Doch die Polizei war in zu geringer Zahl vor Ort. Und verantwortlich hinter der Polizei ist die Politik.

Das Versagen des Staates ist fatal. Es gibt verschiedene Gründe, warum es in Sachsen immer wieder zu rechten Gewalttaten kommt oder warum Pegida in Dresden gegründet wurde. Sachsen fällt auf, steht aber nicht alleine. Viele Deutsche – nicht nur in Sachsen – glauben nicht mehr an den Rechtsstaat. Sie glauben nicht mehr daran, dass Recht und Gesetz angewendet werden.

Und dieser Vertrauensverlust ist ein wichtiger Grund, warum die Ränder am rechten und linken Spektrum stärker werden. Es ist ein Grund für das Erstarken der AfD, die aber selbst den Rechtsstaat nicht hochhält. So hat ein AfD-Bundestagsabgeordneter beispielsweise am Montag Verständnis für Selbstjustiz geäussert. Und die AfD versucht auch im Bundestag, den Staat und seine Institutionen auszuhebeln.

Rechtsstaat wird nicht geschätzt

Der Wert der Verfassung – das deutsche Grundgesetz – wird in Deutschland nicht mehr genug geschätzt. Das Grundgesetz definiert Rechte und Pflichten. Und damit gewährt sie jeder und jedem ein Maximum an Freiheit und Sicherheit. Die Verfassung ist eine klare Geschäftsgrundlage für ein gedeihliches Zusammenleben.

Aber diese Spielregeln müssen eingehalten, Recht und Gesetz durchgesetzt werden – und Chemnitz ist nicht der erste gravierende Schwächeanfall des deutschen Rechtsstaats. Die Krawalle am G20-Gipfel in Hamburg 2017 waren genauso ein staatlicher Kontrollverlust mit Ansage. Die deutsche Regierung wollte damals um jeden Preis den Gipfel in der Hansestadt durchführen, konnte aber die Sicherheit ihrer Bürger in Hamburg nicht garantieren.

Erosion des Rechtsstaats

Es hilft nichts, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt: «Es darf auf keinem Platz und keiner Strasse zu solchen Ausschreitungen kommen.» Nicht einmal eine Grossdemonstration aller Demokraten würde reichen.

Im Jahr 2000 war es in Berlin nach einem antisemitischen Brandanschlag zu einem «Aufstand der Anständigen» gekommen. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schulter. Gleichzeitig wurden in Brandenburg Gelder für kleine Projekte gegen Rechtsextremismus gekürzt. Die Politik in Deutschland hat die Erosion des Rechtsstaats über Jahre zu wenig ernst genommen.

Peter Voegeli

Italien-Korrespondent

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Peter Voegeli ist seit Januar 2022 Italien-Korrespondent von Radio SRF. Von Rom aus hat er auch den Vatikan, Griechenland und Malta im Blick. Zwischen 2005 und 2011 berichtete er als USA-Korrespondent aus Washington DC. Danach war er während dreieinhalb Jahren Moderator von «Echo der Zeit» und von 2015 bis 2021 Deutschland-Korrespondent in Berlin. Von 1995 bis 2005 arbeitete der Historiker als Korrespondent für Schweizer Printmedien in Bonn und Berlin.

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