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Australiens Flüchtlingspolitik «Jede Nacht liege ich wach und sorge mich»

Australien geht mit Bootsflüchtlingen hart um. Sie werden abgefangen, zur Umkehr gezwungen oder eingesperrt. In Indonesien sind Dutzende gestrandet. Ihr Schicksal ist unklar.

Irgendwo in einem anonymen Geschäftshaus in der indonesischen Hauptstadt Jakarta: Ali Reza Yawari beginnt mit seinem Vortrag. 15 junge Leute sitzen um einen langen Tisch. Die Frauen sind dezent geschminkt, ihre Nägel perfekt lackiert. Sie haben ihren Kopf mit einem Tuch bedeckt. Die Männer mit gepflegtem Haarschnitt tragen frisch gebügelte Hemden.

Sie kommen aus Afghanistan. Es sind Hazara, Mitglieder einer muslimischen Religionsgemeinschaft, die von den in Kabul herrschenden Taliban brutal verfolgt werden. Sie haben eines gemeinsam: Sie sind auf der Flucht, auf der Suche nach Sicherheit. Auf der Suche nach einem Ort, wo sie sich eine Zukunft aufbauen können.

Der Workshop ist von «Same Skies» organisiert. Die Schweizer Hilfsorganisation unterstützt seit zehn Jahren Geflüchtete, die in Indonesien und Malaysia gestrandet sind. Die Gründer, die Winterthurerin Julia Frei und ihr australischer Ehemann Bradley Short, beobachten die Schulung aus der Ecke des Raums. Intervenieren tun sie nicht. «Hilfe zur Selbsthilfe», lautet ihre Devise. «Die Geflüchteten bestimmen selbst, was sie tun wollen», sagt Frei. Es ist ein erfolgreiches Konzept.

Die Organisation betreibt in Indonesien Schulen – geführt von Lehrpersonen, die selbst Geflüchtete sind und bei ihrer Ankunft in Indonesien kaum Englisch sprachen. Heute geben sie die Sprache akzentfrei an die nächste Generation weiter. In der malaysischen Stadt Melaka hat «Same Skies» eine von Asylsuchenden betriebene Bäckerei gegründet.

Drei Erwachsene und ein Kind pflanzen Setzlinge im Sand am Wasser.
Legende: Viele Geflüchtete in Indonesien arbeiten freiwillig und unbezahlt in Gemeindeprojekten. Hier pflanzen sie Mangroven auf einer Insel vor Jakarta. SRF / Urs Wälterlin

Der 25-jährige Ali Reza Yawari erklärt mit der Wortgewandtheit eines Experten, wie Flüchtlinge gegenüber der Öffentlichkeit ihre Bedürfnisse und Hoffnungen besser kommunizieren können. Er spricht von Zielgruppen, Verteilkanälen, von Effizienz und Effektivität. Sein Wissen und seine Professionalität sind nicht zuletzt bemerkenswert, weil der junge Mann keine Ausbildung hat.

«Ich kam als 15-jähriger Junge von Afghanistan nach Indonesien», erzählt Yawari. Er ist einer von Dutzenden gestrandeten Asylsuchenden, um die sich «Same Skies» kümmert. Die meisten sind Hazara, die auf der Flucht vor den Taliban nach einer monatelangen Odyssee durch verschiedene Länder in Indonesien gelandet waren.

Indonesien will keine Flüchtlinge

Doch das Land will sie nicht – es kennt kein Asylrecht. Geflüchtete gelten als illegale Einwanderer. «Sie haben praktisch keine Rechte und dürfen auch nicht arbeiten», so Julia Frei. Die meisten Asylsuchenden warten schon seit Jahren darauf, dass das UNO-Flüchtlingshilfswerk eine neue Heimat für sie findet.

Derweil leben sie von der Hand in den Mund, bestenfalls unterstützt von karitativen Organisationen wie «Same Skies». Einige haben dank des Internets eine Einkommensquelle erschliessen können, in dem sie für Auftraggeber im Ausland arbeiten. Ein aus Nigeria geflohener Journalist etwa produziert täglich eine Radiosendung. Als Quellen für seine Beiträge unterhält er in seinem Heimatland ein Netz von Informantinnen und Informanten.

Für die Flüchtlingshelferin Julia Frei ist klar: «Vor zehn Jahren, als die Menschen hierhergekommen sind, hiess das Ziel für viele Australien.» Als sich dann die Politik in Australien geändert hat, seien sie in Indonesien steckengeblieben. Tatsächlich lassen Gespräche mit gut zehn der Geflüchteten die Vermutung zu, dass sie zumindest vorhatten, sich von Menschen-Schleppern einen Platz auf einem Boot nach Australien zu kaufen.

Auf der Suche nach einem sicheren Zuhause

Ali Reza Yawari erzählt. Der 35-Jährige will seinen richtigen Namen nicht nennen. «Jede Nacht liege ich wach und sorge mich.» Er fürchte sich um die Sicherheit seiner Frau und Kinder, die noch immer in Afghanistan seien. Sie würden von den Taliban bedroht, fast jeden Tag. Seit zehn Jahren hat er sie nicht gesehen.

Ich suche einen Ort, wo ich endlich Schutz für mich und meine Familie finden kann. Mir ist egal wo.
Autor: Ali Reza Yawari Flüchtling aus Afghanistan

Die Frage, ob er damals nach Indonesien geflohen sei, um ein Boot nach Australien zu nehmen, verneint er: «zu gefährlich und illegal». Auch andere in der Gruppe weisen fast energisch zurück, entsprechende Absichten gehabt zu haben. Sie wollten mit Hilfe der UNO umgesiedelt werden, auf dem korrekten Weg. Yawari suche einen Ort, wo er endlich Schutz für sich und seine Familie finden kann, egal wo. 

Person in Strandhütte mit Bäumen im Hintergrund.
Legende: Ali Reza Yawari: «Auf der Suche nach Sicherheit, nach einem Ort, wo wir uns eine Zukunft aufbauen können.» SRF / Urs Wälterlin

Sein grösster Wunsch sei, in der neuen Heimat zum Wohl aller Menschen beizutragen, um sich so bedanken zu können.

In Australien herrschen «Sovereign Borders»

Seit drei Jahrzehnten nimmt Australien eine harte Haltung gegenüber Flüchtenden ein, die versuchen, per Boot von Indonesien aus auf den Kontinent zu kommen. Seit zehn Jahren gilt die Kampagne «Sovereign Borders» – souveräne Grenzen. Damals bis heute gilt das Versprechen der Regierung. Und dieses lautet: Kein Bootsflüchtling setzt jemals den Fuss auf australischen Boden.

Wer es trotzdem riskiert, wird von der australischen Marine abgefangen und auf hoher See zur Umkehr gezwungen. Oder in einem isolierten Lager interniert. Auch Kinder, jahrelang, unter Bedingungen, die sogar von den Vereinten Nationen (UNO) als menschenunwürdig kritisiert werden. Unterkünfte und Verpflegung etwa auf der Insel Nauru sind mangelhaft. Frauen sind der Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt, die medizinische Versorgung völlig ungenügend.

Angesicht solcher Zustände wirkt die Begründung der australischen Regierung für die Politik gegenüber Bootsflüchtlingen fast zynisch. Humanitäre Gründe stünden hinter den Massnahmen, heisst es offiziell. Man wolle verhindern, dass Menschen auf dem gefährlichen Weg über das Wasser sterben – Hunderte sind in den letzten Jahrzehnten ertrunken.

Auch Rassismus spielt mit

Doch es geht auch um Politik, und wohl auch um Rassismus. Das australische Wahlvolk steht hinter den Massnahmen. Nicht zuletzt – behaupten Kritiker – weil es sich bei den meisten Geflüchteten um Muslime handle. Berichte über schlimme Zustände und Misshandlungen kommen regelmässig an die Öffentlichkeit. 

Die meisten Bootsflüchtlinge finden sich allerdings nie in dieser Situation. Die australische Navy zwingt fast alle, die es riskiert haben, zur Umkehr. Es ist nicht bekannt, wie viele der kaum seetüchtigen Boote es zurück nach Indonesien schaffen. Alles, was auf dem Wasser geschieht, unterliegt in Australien strikter Geheimhaltung.

Australiens Plan geht auf

Box aufklappen Box zuklappen

Die wenigen offiziellen Statistiken sprechen eine deutliche Sprache: Die Zahl der Boote ist von einst Dutzenden pro Jahr auf eine Handvoll geschrumpft. Die «Politik der Grausamkeit», wie Menschenrechtler sie nennen, funktioniert. Das sagen selbst Kritikerinnen.

Julia Frei von «Same Skies» sagt dazu: «Also wenn das Ziel von Australien war, Leute aus dem Land rauszuhalten, dann hat es funktioniert. Aber die Frage ist, was die Kosten so einer Entscheidung sind.» Denn Australien überlasse damit das Problem einfach seinem Nachbarn Indonesien sowie allen anderen Ländern, in denen Flüchtende gestrandet seien.

Ein Anruf, der alles verändern würde

Derweil warten Betroffene wie Ali Reza Yawari weiter auf den erlösenden Anruf der UNO. Bei einer Umsiedlung nach Kanada, Amerika oder Australien hat er zumindest eine geringe Chance, auch seine Familie nachziehen zu dürfen.

Ob dieser Anruf aber je kommen wird, ist fraglich. Drittländer nähmen immer weniger Menschen über die UNO auf, erklärt Julia Frei. Für Ali Reza Yawari könnte das bedeuten, dass er für immer in Indonesien bleiben muss. Und seine Familie vielleicht nie wieder sehen wird.

Rendez-vous, 6.3.2025, 12:30 Uhr

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