Dutzende halbfertige Mehrfamilienhäuser und Wohntürme stehen verlassen in einem Aussenbezirk von Schanghai. Einzig ein reich verzierter Flachdachbau ist fertig. Der ehemalige Verkaufspavillon mit goldverzierten Tapeten und schweren Möbeln ist gespenstisch leer. Doch im Hauptsaal diskutieren sechs Pensionärinnen und Pensionäre angeregt.
Die Pensionierten kämpfen seit drei Jahren dafür, dass ihre Wohnungen in dieser Überbauung fertiggestellt werden. Ein ehemaliger Lehrer sagt: «Wir wollen unsere Wohnungen. Viele Eigentümer sind verstorben, bevor sie ihre Immobilien bekommen haben.»
2800 Familien – rund 10'000 Leute – sollten seit Sommer 2020 hier leben. Aber der Immobilienentwickler geriet in Geldnot, bevor die ersten Familien einziehen konnten. Die Firma selbst blockiert jegliche Kontaktaufnahme. Auch die Behörden geben keine Auskunft.
Branche florierte über Jahrzehnte
Wie die Pensionierten haben viele Chinesinnen und Chinesen ihr hart Erspartes in Wohnungen und Häuser investiert. Rund 70 Prozent der Vermögen wurden in China in Immobilien gesteckt. Es war eine scheinbar sichere Anlage. Die Branche florierte über Jahrzehnte. Es wurde massiv gebaut, die Preise stiegen konstant.
Doch zwei Probleme führten in die Krise: Spekulation und Schulden. «Insbesondere die Immobilienfirmen haben sich zunehmend hoch verschuldet», sagt die Chefökonomin der Hang Seng Bank, Dan Wang: «Die Regierung sah, dass dies nicht nachhaltig ist. Als ersten Schritt machte sie den Immobilienfirmen Vorschriften bezüglich Verschuldung. Diese müssen genügend flüssige Mittel haben und dürfen sich nicht einfach mit Schulden finanzieren. Das führte zur Situation, die wir heute haben.»
Die Konsolidierung sei zwar nötig, jedoch sei die Regierung voreilig vorgegangen, meint Wang. Und so warten die Pensionäre wie tausende andere immer noch auf ihr Eigenheim. Dabei hätten sie sich zu den Glücklichen gezählt, meint der Lehrer. Die Nachfrage nach den Wohnungen sei so gross gewesen, dass es eine Lotterie gegeben habe, um die Käufer auszulosen.
Alles schön geplant
Er führt mit einem pensionierten Chauffeur in einen hohen Saal, in dem die Wände bereits Schimmel angesetzt haben. Ein grosses Modell der Überbauung ist in der Mitte aufgebaut: Klinik, Einkaufsmöglichkeiten, Schule, direkte ÖV-Verbindung ins Zentrum von Schanghai. Alles genau geplant: «Dieses Projekt, wir lieben und wir hassen es. Verdammt, wir warten schon so lange. Aber es sieht einfach schön aus», sagt der ehemalige Chauffeur.
Er habe seine baufällige 40-Quadratmeter-Wohnung im Zentrum von Schanghai verkauft. Das reichte für eine dreimal so grosse Wohnung hier. Doch nun lebe er in einem lottrigen Zimmer zur Untermiete. Die Pensionierten hoffen immer noch, ihre Wohnungen dereinst beziehen zu können. Eine berechtigte Hoffnung, meint Chefökonomin Dan Wang: «Es gab verschiedene Bemühungen auf allen Regierungsebenen. Diese Massnahmen zielen auf Immobilienunternehmen ab, deren Liquidität gefährdet ist. Sie sind speziell für Projekte, die im Bau sind. Denn unter dem Strich ist die soziale Stabilität das Wichtigste. Das Letzte, was die Regierung will, sind eine Art soziale Proteste.»
Die Pensionierten, die sich täglich im ehemaligen Verkaufspavillon treffen, sehen inzwischen wieder Arbeiter auf die Baustelle kommen. Zum Abschied sagen sie: «Wenn die Regierung nicht für uns eintritt, werden wir einfach sterben. Die Regierung soll für uns eintreten.»