Als Russland im Februar den Nachbarn Ukraine überfiel, wollten Jaana Ratas und Anu Lensment auf keinen Fall untätig bleiben. Das Schicksal der Ukraine löste in ihnen – wie bei vielen Estinnen und Esten – Erinnerungen an die Geschichte des eigenen Landes aus.
Denn auch Estland wurde vom Nachbarn – der Sowjetunion – besetzt und ein Teil der Bevölkerung ermordet, deportiert oder vertrieben. Entsprechend gross ist die Solidarität mit der Ukraine.
Doch was tun? An Hilfswerke zu spenden, befriedigte sie nicht. Die beiden Frauen aus der Hauptstadt Tallinn wollten sicher sein, dass ihre Hilfe ankommt und konkrete Wirkung entfaltet. Und so entschieden sich die Textilarchäologin und die Modedesignerin für etwas, das mit ihren Berufen verwandt ist: Sie begannen, Tarnnetze zu knüpfen.
In einem Einkaufszentrum in Tallinn konnten sie eine grosse Lagerhalle mieten. Dort liegen Säcke, die vollgestopft sind mit Altkleidern. Netze sind über grosse Holzrahmen gespannt, daneben hängt eine ukrainische Fahne. Frauen schneiden an einem Tisch Stoffreste in Streifen: grüne, braune, ockerfarbige schmale Stoffstreifen. Am Boden liegen fertige Tarnnetze ausgebreitet.
Die 54-jährige Jaana Ratas erklärt: «Wir benützen Fischernetze und Altkleider. Letztere schneiden wir in Streifen und weben sie in die Netze ein. Die fertigen Netze werden auf Fehler geprüft und zusammengerollt.» Und dann zusammen mit Hilfsgütern in die Ukraine gebracht.
Je nachdem, ob die Netze für den Einsatz im Wald oder im Feld vorgesehen sind, variieren die Farben: für den Wald werden grüne und braune, für die Steppe ockerfarbige und braune Stoffstreifen verwoben.
Auch geflüchtete Ukrainerinnen helfen mit
Anu Lensment sagt, sie erhielten Fotos von Soldaten mit den Netzen und wüssten, dass diese wirklich gebraucht würden. Das sei eine wichtige Motivation, für alle Freiwilligen ihrer Gruppe. Es sind nicht nur Estinnen, die in der Lagerhalle ihre Freizeit verbringen, auch geflüchtete Ukrainerinnen sind hier tätig und froh, ihre Armee unterstützen zu können.
Doch wie ist die Idee entstanden? Sie sahen auf Facebook, wie lettische Frauen Tarnnetze herstellten, sagt Ratas: «Dann haben wir uns Videoanleitungen aus der Ukraine angeschaut, Bücher und wissenschaftliche Artikel gelesen. Und wir lassen uns beraten: von Scharfschützen und Militärs. Wir testen die Netze auch. Wir entwickeln uns selbst und das Produkt. Das ist spannend.»
Die Bedrohung war all die letzten Jahre immer da, aber nur unterschwellig. Nun liegt sie offen zutage.
Man spürt: Die Frauen sind mit grossem Eifer bei der Sache. Doch hinter allem lauert Angst: die Angst nämlich, dass auch Estland Opfer einer russischen Aggression werden könnte. An entsprechenden Drohungen fehlt es nicht in russischen Staatssendern. Dort wird etwa behauptet, auch die Balten seien Faschisten und würden die russische Minderheit unterdrücken.
Ja, sie fühlten sich von Russland bedroht, sagen Lensment und Ratas: «Die Bedrohung war all die letzten Jahre immer da, aber nur unterschwellig. Nun liegt sie offen zutage. Und wir haben zumindest das Gefühl, etwas Konkretes dagegen tun zu können.»