Estland hat diese Woche entschieden, keine neuen Schengen-Visa für Russinnen und Russen auszustellen. Ausserdem hat der EU- und Nato-Mitgliedsstaat die Erlaubnis gegeben, sowjetische Denkmäler aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Dies werde von der Bevölkerung mehrheitlich mitgetragen, sagt Experte Florian Hartleb.
SRF News: Wie sensibel nimmt man in Estland den Krieg wahr?
Florian Hartleb: Sehr. Wir sprechen hier von einer starken russischsprachigen Minderheit, die seit Jahrzehnten hier lebt, wir sprechen von der direkten Nachbarschaft zu Russland. Und wir sprechen auch von der jahrzehntelangen Besetzung durch Russland respektive in der Sowjetzeit. Deswegen ist man hier jetzt besonders rigide.
Estland stellt sich mit dieser Massnahme entschieden gegen Russland. Woher nimmt das Land diesen Mut?
Man sieht in der Ukraine einen Genozid. Und man sieht die Bedrohung durch Russland nicht erst seit 2022, sondern schon seit 2014 mit der Besetzung der Krim – und eigentlich schon seit Jahrzehnten durch die eigene Geschichte. Deshalb sind die Estinnen und Esten auch besonders traumatisiert und jetzt eben auch besonders scharf in ihrer Reaktion.
Dieser Weg wird nicht einfach sein und wir müssen auch damit rechnen, dass wir hier Unzufriedenheit bekommen im Winter, wenn es -20 Grad sein kann.
Ist der Krieg in der Ukraine also sehr präsent in Estland?
Ja, auch weil man mit der Grenzstadt Narva eine Zwillingsstadt mit Russland hat und eine Brücke, die Estland von Russland trennt. Hinzu kommen die ganzen Spannungen zwischen Litauen und Kaliningrad. Deswegen setzt man im Baltikum auf die Nato. Man war auch enttäuscht über Deutschland, das sehr lange gezögert hat mit Waffenlieferungen. In dem Punkt ist man sich einig und unterstützt die Ukraine militärisch.
In Estland sind die Gas- und Strompreise seit dem Krieg stark gestiegen. Wie abhängig ist Estland von Russland?
Estland ist sehr abhängig von Russland. Man versucht jetzt, mit Flüssigerdgas etwas unabhängiger zu sein. Aber man hat natürlich mit massiven Preissteigerungen zu kämpfen. Estland hat die höchste Inflationssteigerung innerhalb der EU. Deshalb wird dieser Weg nicht einfach sein und wir müssen auch damit rechnen, dass wir hier Unzufriedenheit bekommen im Winter, wenn es -20 Grad sein kann.
Die härtere Gangart ist natürlich ein Risiko, denn das Leben wird teurer, die Energiepreise steigen und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
Wie gross ist die Bereitschaft in der Bevölkerung, diese Konsequenzen zu tragen?
Sie ist gross, wobei es ja fast keine Alternative gibt, weil diese fundamentalen Entscheidungen schon getroffen wurden. Man will bis Ende dieses Jahres alle Denkmäler aus der Sowjetzeit entfernen oder sie umbenennen und die Bevölkerung unterstützt dies mehrheitlich.
Das Parlament hat mit grosser Mehrheit beschlossen, den Krieg als Genozid zu klassifizieren. Aber es gibt natürlich auch einige gerade ältere Menschen unter den Russischstämmigen, die protestieren, zumal auch die russischen Medien Russia Today und Sputnik abgeschaltet wurden.
Estland setzt auf eine harte Gangart gegenüber Russland. Sehen Sie das eher als Risiko oder als Zeichen der Stärke?
Beides. Estland hat schon vor Jahren gewarnt, wie auch die anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen. Man ist hier oft belächelt worden und auch viele Delegationen, auch aus der Schweiz und Deutschland, haben gesagt, das sind eben die Traumata der Vergangenheit. Sie haben das nicht ernst genommen.
Es gibt auch eine grosse Lobby von Putin-Verstehern, wenn wir zum Beispiel an den früheren deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder denken. Ein Risiko ist die härtere Gangart natürlich, denn das Leben wird teurer, die Energiepreise steigen und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
Das Gespräch führte Zoe Geissler.