Bizarre Szenen in Belarus: Seit Wochen protestieren Tausende gegen das Resultat der Präsidentschaftswahlen vom August. Nun wurden heute in Minsk die Strassen abgesperrt, das Militär aufgefahren – der umstrittene Staatschef Alexander Lukaschenko liess sich im Geheimen in den Palast chauffieren und dort vereidigen. Das sei ein Wendepunkt, sagt SRF-Moskaukorrespondent David Nauer: Diese Unverfrorenheit könnte die Wut im Land noch grösser werden lassen.
SRF News: Wusste wirklich niemand etwas von der Vereidigung?
David Nauer: Der engste Kreis um Lukaschenko wusste das natürlich, aber die Öffentlichkeit war wirklich ahnungslos. Das Ganze kam daher wie eine Geheimoperation. Plötzlich wurden Strassen gesperrt, Militär fuhr rund um den Präsidentenpalast auf. Belarussische Medien begannen sofort darüber zu spekulieren, ob das eine Generalprobe für die Amtseinführung sein könnte. Dann aber tauchte Lukaschenkos Wagenkolonne auf, fuhr in den Präsidentenpalast und kurz darauf meldete die staatliche Presseagentur, Lukaschenko habe den Amtseid abgelegt.
Normalerweise wird eine solche Inaugurationsfeier von viel Pomp begleitet. Warum diesmal diese Geheimniskrämerei?
Ganz klar aus Angst vor Protesten. Es gibt bereits riesige Demonstrationen wegen der Wahlfälschung der Präsidentschaftswahlen vom August. Man wusste, dass Lukaschenkos Vereidigung eine riesige Provokation für all diejenigen ist, die gegen ihn demonstrieren.
Lukaschenko ist ein Präsident ohne Volk, der sich durch die Hintertür in eine neue Amtszeit geschlichen hat.
Viele Gegner Lukaschenkos sagen zudem, dass die Wahl war derart gefälscht war, dass sie ihn ab dem Moment der Vereidigung nicht mehr als Präsidenten anerkennen würden. Da ist es klar, dass eine angekündigte Inauguration riesige neue Proteste ausgelöst hätte. Deshalb hat er es in aller Heimlichkeit durchgezogen. Er ist quasi ein Präsident ohne Volk, der sich durch die Hintertür in eine neue Amtszeit geschlichen hat.
Wenn Lukaschenko jetzt in den Augen der Opposition nicht mehr legitim an der Macht ist, weil er die Wahlen gefälscht hat – was heisst das jetzt?
Es ist ein Wendepunkt. Lukaschenko hat seinen Bürgerinnen und Bürgern das Signal gesendet: Mir ist komplett egal, was ihr denkt und wollt, ich mache, was ich will – weil ich es kann. Diese Unverfrorenheit könnte die Wut gegen ihn noch grösser werden lassen. Bereits heute Morgen sind Leute mit eilig beschriebenen Plakaten auf die Strassen von Minsk gegangen. Auch Studierende protestieren. Am Abend plant die Opposition riesige, neue Demonstrationen im ganzen Land.
Aber von Unruhen gehen Sie derzeit nicht aus?
Es kann sehr wohl zu Gewalt kommen. Die Sicherheitskräfte gehen schon seit Wochen sehr gewalttätig gegen Demonstrierende vor. Aber ich glaube nicht, dass sich das Kräfteverhältnis in Belarus so bald ändert. Es gehen zwar Zehntausende, manchmal auch deutlich über Hunderttausend auf die Strasse, zum Teil wird auch gestreikt. Grosse Teile der Bevölkerung stehen nicht mehr hinter Lukaschenko.
Wenn, dann hat die Situation eher Lukaschenko gestärkt.
Aber er hält sich an der Macht, weil die Sicherheitskräfte zu ihm halten. Auch der Kreml unterstützt ihn weiter. Die heutige Spezialoperation «Amtsantritt» dürfte an diesem Patt zwischen Opposition und Lukaschenko nicht viel geändert haben. Wenn, dann hat die Situation eher Lukaschenko gestärkt: Er kann den Präsidenten geben – oder spielen, wie man will – und warten, bis die Menschen müde sind, gegen ihn zu demonstrieren. Das wird sich noch eine Weile hinziehen. Wir werden sehen, wer den längeren Atem hat.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.