Die Ukraine verteidigt sich seit über anderthalb Jahren gegen den Angriff von Russland. Nun steht das ukrainische Militär vor dem zweiten Kriegswinter und ist weiterhin auf genügend Soldaten an der Front angewiesen. David Nauer, Auslandredaktor von SRF, war eben erst in der Ukraine und schätzt ein, wie es um den Wehrwillen im Land bestellt ist.
SRF News: Wie steht es um den Wehrwillen jener Ukrainer, die wehrpflichtig sind, aber noch nicht eingezogen wurden?
David Nauer: Pauschal lässt sich das nicht sagen. Ich habe mit wehrpflichtigen Männern in der Ukraine gesprochen. Viele sagen, sie würden Kriegsdienst leisten, wenn sie eingezogen werden. Sie liessen aber durchblicken, dass sie eigentlich ganz froh wären, wenn sie nicht in die Armee müssten. Einer der Männer sagte allerdings, er sei nicht nur bereit zu kämpfen, sondern er bereite sich sogar durch sportliche Aktivität darauf vor. Ein anderer sagte dagegen klipp und klar, er wolle nicht in die Armee.
Es ist wohl in jeder Gesellschaft so, dass nicht jeder bereit ist, sein Leben zu riskieren.
Das Bild ist also gemischt. Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass die Situation anders ist als noch zu Beginn des Krieges. Damals gab es sehr viele Freiwillige, die sich für den Kriegsdienst gemeldet haben. Die Stimmung hat sich gewandelt. Viele hoffen, dass sie verschont bleiben.
Vor allem in den ersten Kriegswochen meldeten sich Hunderttausende freiwillig zum Wehrdienst. Nach 21 Monaten gibt es offenbar Männer, bei denen der Wehrwille auch schon höher war. Wie erklären Sie sich das?
Einerseits liegt es daran, dass die Wehrwilligen bereits in der Armee sind oder waren – denn viele von ihnen sind schon gefallen. Diejenigen, die noch in der Ukraine, aber nicht in der Armee sind, sind eher zurückhaltend. Es ist aber wohl in jeder Gesellschaft so, dass nicht jeder bereit ist, sein Leben zu riskieren. Viele, die in der Ukraine dazu bereit sind, kämpfen schon.
Der Krieg scheint manchmal fast schon weit weg zu sein. Das mindert die Bereitschaft, selbst zur Waffe zu greifen.
Andererseits hat sich der Krieg verändert. Die Russen stehen nicht mehr vor Kiew. Gekämpft wird vor allem im Osten und im Süden. In den übrigen Landesteilen hat sich das Leben weitgehend normalisiert. Der Krieg scheint manchmal fast schon weit weg zu sein. Das mindert die Bereitschaft, selbst zur Waffe zu greifen.
Wie kann man dem Wehrdienst entgehen?
Es gibt verschiedene Wege. Zum Beispiel sind Studenten von der Wehrpflicht ausgenommen. Deswegen soll es Männer geben, die sich extra an der Uni einschreiben, um nicht dienen zu müssen. Andere versuchen, das Land zu verlassen. Für Männer ist das legal aber nicht möglich. Deswegen schlagen sich manche illegal über die grüne Grenze durch Wälder oder schwimmen über Grenzflüsse, um ins Ausland zu gelangen. Das ist riskant, weil der Grenzschutz dort sehr präsent ist.
Man kann sich auch mit Schmiergeldzahlungen vom Wehrdienst freikaufen. Die Rede ist davon, dass das mehrere Tausend Dollar kosten soll. Das ist natürlich hochgradig illegal und auch nicht so einfach. Denn dazu braucht es Beziehungen und vor allem Geld, um sich auf diese Weise vor dem Wehrdienst zu drücken.
Was macht die Regierung in Kiew dagegen?
Sie hat das Problem erkannt. Im Sommer hat Präsident Selenski die Chefs aller Rekrutierungsbüros entlassen, weil es zu vielen Korruptionsfällen gekommen ist. Zudem wurden Schlupflöcher an der Grenze geschlossen. Früher konnten sich Männer das Recht erkaufen, ausreisen zu dürfen. Das ist inzwischen erschwert worden. Insgesamt lässt sich aber feststellen: Viele sind bereit zu kämpfen, wenn sie müssen. Und diejenigen, die sich dem Wehrdienst entziehen wollen – etwa durch Flucht – sind eine Minderheit.
Das Gespräch führte Tim Eggimann.