Bei ihrer Machtübernahme vor einem Jahr versprachen die Taliban in Afghanistan, dass Mädchen weiterhin zur Schule gehen dürften. Doch von dem Versprechen ist nicht viel geblieben, wie ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigt. Pressesprecherin Natalie Wenger erläutert die Hintergründe.
SRF News: Mit welchen Problemen kämpfen Mädchen in Afghanistan?
Natalie Wenger: In Afghanistan haben alle weiblichen Personen einen sehr schweren Stand, ihre Rechte werden immer wieder verletzt. Ein Beispiel ist das Taliban-Versprechen auf Bildung, das nicht eingehalten wurde: Es wurde am vergangenen 23. März zwar eingelöst, doch noch am selben Tag konstatierten die Taliban ein «technisches Problem» mit den Schuluniformen und schickten alle Mädchen wieder nach Hause.
Die Taliban gaben sich bei der Machtübernahme vor einem Jahr liberaler als früher. Waren das bloss Worthülsen?
Ja, leider. Nicht nur die Bildung von Frauen ist stark eingeschränkt, sie dürfen auch kaum mehr arbeiten gehen, ohne männliche Begleitung dürfen sie sich nicht in der Öffentlichkeit bewegen, Kinderehen und Zwangsverheiratungen haben stark zugenommen.
Was ist aus den Protesten der Frauen gegen die Talibanherrschaft geworden?
Die Teilnehmerinnen dieser Proteste nach der Machtübernahme der Taliban waren schweren Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt.
Manche Frauen sind Opfer des Verschwindenlassens geworden.
Viele wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert. Einige Frauen sind gar Opfer des Verschwindenlassens geworden – sie können nicht mehr aufgefunden werden.
Auf welche Quellen stützt sich Amnesty International beim Bericht?
Die Taliban haben uns zwischen September 2021 und Juni 2022 Afghanistan mehrmals besuchen lassen. Wir haben rund 100 Interviews mit Frauen und Mädchen aus 20 verschiedenen Provinzen des Landes führen können. Teilweise fanden die Gespräche aber auch per Videotelefonie statt.
Gibt es in Afghanistan auch Entwicklungen, die Hoffnung machen – oder ist die Lage hoffnungslos?
Ein kleiner Lichtblick ist, dass uns die Taliban überhaupt Zugang zu ihrem Land gewährt haben. Wir planen weitere Untersuchungen vor Ort, falls das möglich ist. Positiv stimmt auch die Tatsache, dass sich viele Frauen weiterhin wehren und ihr Schicksal unter den Taliban nicht einfach hinnehmen. Für uns geht es darum, sicherzustellen, dass der Schutz der Menschenrechte auch in Afghanistan gewährleistet ist.
Was würde die Situation für die Mädchen und Frauen in Afghanistan verbessern?
Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, das Verhalten der Taliban mit Konsequenzen zu ahnden – der UNO-Sicherheitsrat könnte etwa gezielte Sanktionen oder Reiseverbote verhängen. So könnte Druck auf die Taliban ausgeübt werden.
Wir können die Frauen und Mädchen in Afghanistan nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.
Auch wenn wir nicht wissen, wie die Taliban auf solchen Druck reagieren würden – wir können die Frauen und Mädchen in Afghanistan nicht einfach ihrem Schicksal überlassen und zuschauen, wie sie ihrer Menschenrechte beraubt werden.
Das Gespräch führte Raphaël Günther.