Es gilt, was immer schon galt: Ohne einen beidseitig ratifizierten Scheidungsvertrag gibt es keine Übergangsperiode, sondern einen schmerzhaften Absturz in den vertragslosen Zustand unter bisher eng vernetzten Handelspartnern.
Theresa May hatte bekanntlich einen umfangreichen, rechtlich verbindlichen Scheidungsvertrag mit der EU ausgehandelt. Doch sie vermochte das Unterhaus nicht von dessen Meriten zu überzeugen und musste gehen.
Ihr Nachfolger, Boris Johnson, hat zwei neue rote Linie gezogen: Er will um jeden Preis am Austrittsdatum vom 31. Oktober 2019 festhalten und er will die Vereinbarungen, die eine unsichtbare Grenze auf der Insel Irland gewährleisten, aus dem Abkommen entfernen.
Unter diesen Regelungen würde der gemeinsame Wirtschaftsraum zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland aufrechterhalten, indem das ganze Vereinigte Königreich in der Zollunion verbleibt und Nordirland gewisse Regeln des Binnenmarktes beibehält. Das gilt so lange, bis ein neuer, definitiver Handelsvertrag dieselben Vorteile auf der Insel Irland bietet.
Europa-Tournée als britischer Wahlkampf
Boris Johnson und seine Brexit-gläubigen Minister halten dies für eine unzumutbare Einschränkung der britischen Souveränität. Johnson bietet stattdessen digitale Kontrollen an, die keine Installationen an der Grenze selbst erforderten.
Die EU und Irland halten diese Alternative schlimmstenfalls für ein Hirngespinst, bestenfalls für ein Zukunftsprojekt und bereiten sich auf einen ungeordneten Brexit vor. No Deal. Sie hoffen, dass das Unterhaus dies noch verhindern kann. Johnson seinerseits hofft, dass die EU einknicken wird, sobald sich diese Hoffnung zerschlägt.
Das scheint höchst unwahrscheinlich. Die Natur des Brexit wird also nicht in Brüssel, Berlin oder Paris festgelegt, sondern im Unterhaus. Johnson muss mit einem Misstrauensvotum rechnen, wenn die Parlamentarier Anfang September ihre Beratungen wieder aufnehmen. Seine Europa-Tournée zielt auf einen britischen Wahlkampf, nicht auf die EU. Er sucht einen Sündenbock.
Frau Merkel und Monsieur Macron sind indessen zu gewieft, um diesen Schwarzen Peter zu akzeptieren. Sie haben Boris Johnson nun 30 Tage Zeit gegeben, eine realistische Alternative zum irischen Backstop vorzulegen, die zwei Bedingungen erfüllt: keine sichtbaren Einrichtungen entlang der brisanten irischen Grenze und Schutz des europäischen Binnenmarktes.
Nun liegt der Schwarze Peter wieder bei Boris Johnson. So unterhaltsam diese Manöver auch sein mögen: Es handelt sich leider nicht um ein Spiel, sondern um bitteren Ernst für Millionen von britischen, irischen und europäischen Bürgern.