Der «Fall Relotius» erschüttert den Journalismus insgesamt. In Zeiten, in denen ein US-Präsident von «Fake-News-Medien» spricht und der Schmähbegriff «Lügenpresse» aus der Mottenkiste geholt wird, ist faktenorientierte Berichterstattung wichtiger denn je. Medienexperte Michael Haller fordert Aufklärung statt Selbstbeweihräucherung von Journalisten.
SRF News: Der «Spiegel» hat eine grosse Dokumentarabteilung, die Texte auf Fakten überprüft. Warum hat diese nichts gemerkt?
Michael Haller: Bei Texten, bei denen der Reporter unterwegs war, ist der Faktencheck schwierig. Gerade, wenn die Schauplätze schwer zugänglich sind – etwa Bürgerkriegsgebiete. Der Reporter gibt in solchen Fällen an, exklusiven Zugang gehabt zu haben.
Der Glaube an elegant geschriebene Reportagen ist zu gross.
Es liegen keine Unterlagen oder weitere Quellen vor. Eine Dokumentarabteilung ist darauf angewiesen, dass sie die Fakten eines Berichts mit bestehendem Material abgleichen kann.
Das heisst, man vertraut dem Reporter?
Der Reporter muss sich dieses Vertrauen erarbeiten. Man vertraut ihm nicht blind. Das war auch bei Relotius so. Er hat jahrelang kleinere Berichte geschrieben, die sich auch in Deutschland und Mitteleuropa zugetragen haben. Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten konnte überprüft werden.
Ist die Lehre, dass man weniger vertrauen sollte?
Auf jeden Fall. Noch wichtiger ist aber etwas anderes. Der Glaube an elegant geschriebene Reportagen ist zu gross. Sie werden danach beurteilt, ob sie süffig zu lesen, toll im Stil sind und wunderbare Episoden erzählen.
Der Journalist muss lernen, mit seiner eigenen Eitelkeit umzugehen.
Man muss sich umorientieren. Es kommt darauf an, ob eine Geschichte wichtige Sachverhalte ans Licht bringt. Aufklärungsarbeit ist erstrangig. Stil ist zweitrangig.
Sie haben jahrelang junge Journalisten ausgebildet. Was haben Sie getan, damit diese gar nicht auf die Idee gekommen wären, Geschichten zu fälschen?
Der Journalist soll nicht Schriftsteller sein. Man muss lernen, mit seiner eigenen Eitelkeit umzugehen. Es ist verführerisch, mit einer schönen Geschichte gefeiert zu werden. Mit der nächsten Geschichte möchte man dann mindestens wieder so gut sein wie mit der vorangegangenen. Man muss lernen, dass man auch scheitern kann und dieses Scheitern auch zulassen.
Das sind die Dinge, die vermutlich auch beim vorliegenden Fall dazu geführt haben, dass der Kollege am Ende nur noch Fakes geschrieben hat. Er hat sich selber eine Hürde aufgebaut mit den Texten, die er bereits geschrieben hatte. Die nächste sollte jeweils noch besser und aufregender werden. Das ist eine fatale Entwicklung. Gerade junge Journalisten, die Karriere machen wollen, muss man davor warnen. Sie sollen lieber eine interessante, aufklärerische berichtende Geschichte schreiben, die ohne grosse Eloquenz auskommt.
Ist der Druck, nicht scheitern zu dürfen, grösser geworden seit es den Verlagen finanziell nicht mehr so gut geht?
In vielen Medienhäusern schon, beim «Spiegel» aber nicht. Dort spielen psychologische Aspekte – das Redaktionsklima – aber nicht der ökonomische Druck eine Rolle. Bei Illustrierten wie dem «Stern» oder unterhaltenden Blättern ist das stärker ausgeprägt. Und gerade im Online-Bereich ist der Überbietungs-Journalismus wesentlich verbreiteter. Hier ist der Faktor Zeit aber wichtiger als elegante Schreibe. Das führt zu Fehlern und leichtem «anfaken» von Geschichten, weil man etwas nicht wirklich weiss, es aber rausmuss.
Das Gespräch führte Simon Leu.