Der Konflikt in der Ostukraine entwickelt sich immer mehr zu einem offenen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Die Berichte häufen sich, dass russische Truppen, Panzer und Artillerie die Grenze zur Ukraine überschreiten.
Die ukrainische Regierung, die USA und westeuropäische Länder werfen Russland offen vor, direkt militärisch in den Konflikt einzugreifen. Fragen an Kyryl Savin, den Leiter der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
SRF: Wie reagiert die Bevölkerung in Kiew auf die jüngsten Eskalationen im Südosten des Landes?
Kyryl Savin: Die Reaktionen sind unterschiedlich. Gestern vormittags herrschte ziemlich panische Stimmung und viele fragten sich, ob sie nun die Koffer packen und sich auf die Flucht vorbereiten sollten. Ab dem Nachmittag beruhigte sich die Lage etwas, war doch klar, dass russische Truppen bei Weitem noch nicht auf Kiew zumarschieren. Über Facebook wurde allerdings bereits über Essensvorräte bei einem allfälligen Beschuss diskutiert. Ein weiteres Thema war die Beschaffung von Waffen für einen Partisanenkrieg gegen russische Invasoren. Letztlich war es aber für die ukrainische Bevölkerung seit Monaten klar, dass sich russische Truppen direkt am Konflikt beteiligen. Seit gestern ist es nur offiziell geworden.
Können sich die Menschen in Kiew überhaupt ein unabhängiges Bild der Lage verschaffen?
Viele ukrainische Soldaten und Freiwillige berichten von den Kämpfen im Donezker Becken per Handy auf Twitter und Facebook. Über diese sozialen Netzwerke erhält man ein einigermassen objektives Bild. Die ukrainischen Medien in ihrem Gegenpropaganda-Modus berichten dagegen nur über Erfolge und verschweigen Niederlagen.
Nun will die Ukraine die Wehrpflicht wieder einführen. Bereitet sich die Ukraine auf einen Krieg vor?
In der Tat, die Vorbereitungen laufen. Man weiss ja nicht, welche neue Eskalationsstufe der Konflikt noch erreichen wird. Was wir jetzt erleben, war noch vor einem halben Jahr undenkbar. Man schliesst deshalb grundsätzlich nichts aus und bereitet sich auf Schlimmeres vor. Die Regierung macht auch bereits Mobilisierungspläne und erwägt Kriegsrecht. Dagegen spricht wiederum ein Vorhaben von Präsident Petro Poroschenko, Ende Oktober Parlamentsneuwahlen durchzuführen.
Wie ist die Stimmung der Menschen in Kiew? Würden sie hinter einer Ausrufung des Kriegsrechts stehen?
Bei der gestrigen Kundgebung vor dem Verteidigungsministerium verlangten sehr viele Aktivisten von Poroschenko das Kriegsrecht. Auch um der ganzen Welt zu zeigen, dass es sich in der Ukraine nicht um einen lokalen Konflikt oder Bürgerkrieg handelt, sondern um eine Invasion Russlands. Per Kriegsrecht könnten zugleich gewisse Entscheidungen schneller getroffen werden, als dies bei der laufenden Antiterror-Operation der Fall ist. Hierfür zeigt die Bevölkerung grosses Verständnis.
Die internationale Gemeinschaft setzt weiter auf Diplomatie. Fühlt sich die Bevölkerung im Stich gelassen?
Ja, zum grossen Teil schon. Man hofft ja hier nicht auf die diplomatische Lösung. Zwar werden alle Verhandlungen aufmerksam beobachtet. Dieses endeten bisher immer ergebnislos und es folgte nur die nächste Eskalation. Die Hoffnung liegt also auf dem militärischen Widerstand mit Hilfe der Weltgemeinschaft, die zugleich noch verstärkten Druck auf Putin machen soll.
Steht nun der offene Krieg zwischen der Ukraine und Russland bevor?
Das glaube ich immer noch nicht. Putin hat auch gestern nicht zugeben, dass russische Truppen am Konflikt beteiligt sind, obwohl es für die ganze Welt offensichtlich ist. Putin wird vermutlich weiter auf seiner Linie bleiben, wonach Russland nicht Partei dieses Konflikts sei und die ukrainische Regierung mit den Separatisten sprechen müsse.
Auch gehe ich nicht davon aus, dass Putin die Ukraine komplett besetzen will. Die wichtige Hafen- und Industriestadt Mariupol mit 450'000 Einwohern im Süden hat er jetzt vermutlich im Visier, um der Ukraine noch mehr und vor allem wirtschaftliche Probleme zu verschaffen. Sein Ziel ist es, dass der Konflikt möglichst lange dauert. Putin will die jetzige ukrainische Regierung verjagen, um prorussische Kräfte an die politische Spitze in Kiew zu bekommen.