Bilder von verzweifelten Menschen, die sich an ein Militärflugzeug klammern und in den Tod stürzen, haben sich bereits ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nun kostet ein verheerender Doppelanschlag am Flughafen Kabul Dutzende Zivilisten das Leben – und die US-Streitkräfte erleiden die schwersten Verluste seit über zehn Jahren.
Biden wollte in grosser Trauer stark erscheinen.
Der amerikanische Abzug aus Afghanistan wird als eines der grössten aussenpolitischen Traumata in die US-Geschichte eingehen. Und bedeutet für die mutmasslichen Urheber des Blutbads – einen Ableger der Terrormiliz IS in Afghanistan (ISIS-K) – einen riesigen propagandistischen Erfolg.
Trauer und Wut
US-Präsident Joe Biden trat am Donnerstagabend mit markigen, ja martialischen Worten vor die Medien. «Wir werden euch jagen und ihr werdet büssen!», liess er die Terroristen wissen.
Doch in die Rede des Präsidenten mischten sich auch andere Tonlagen; etwa, wenn er sich sichtlich betroffen an die Familien der gefallenen Soldaten richtete. «Biden sprach zu einer verunsicherten Nation, die dieser Anschlag schwer trifft», sagt Thomas Jäger, Professor für internationale Politik an der Universität Köln. «Er wollte in grosser Trauer stark erscheinen.»
Noch vor einer Woche zog Biden mit einer Rede zum chaotischen Abzug aus Afghanistan Kritik auf sich, die mit Schuldzuweisungen gespickt war. Insbesondere an die afghanische Armee und Regierung, die ihr eigenes Land nicht verteidigen wollten. «Im Gegensatz zu dieser abweisenden und kühlen Rede trat Biden gestern sehr empathisch auf», so Jäger.
Bei aller Trauer und Vergeltungsdrohungen: Am Abzugsdatum des 31. August hält Biden unverdrossen fest. Die Losung: Die amerikanischen Interessen werden weiter verteidigt, Terrorgruppen werden auch nach dem Abzug der USA aus Afghanistan rigoros verfolgt. «Wenn hier einmal die Taliban gemeint waren, wird jetzt ISIS-K in den Blick genommen», so der US-Experte.
Erinnerungen an George W. Bush
Bidens martialische Wortwahl erinnert Jäger an George W. Bushs Rhetorik nach den Anschlägen von 9/11. «Es hat nur noch gefehlt, dass Biden gesagt hätte: ‹Entweder ihr seid für uns oder gegen uns›.»
Doch im Gegensatz zum Terror von damals vereint sich das Volk diesmal nicht hinter dem Präsidenten. «Biden erlebt die grösste Krise seiner Amtszeit», titelt heute etwa die renommierte «Washington Post». Auch Bidens Zustimmungswerte gehen derzeit zurück.
In Bidens Aufritt als hartem «Commander-in-Chief» schwingt für Jäger ein klares Kalkül mit: Denn das Militär sei die einzige Institution in den USA, die durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch Respekt geniesse. «Biden will das Militär nutzen, um seine eigene Stellung in diesen schweren Tagen zu festigen.»
Doch während George W. Bush den Worten eine Militärinvasion folgen liess, treten die US-Streitkräfte nun den Rückzug an. Kann Biden die Strippenzieher tatsächlich zur Verantwortung ziehen – und verhindern, dass Afghanistan erneut zur Brutstätte des Terrors wird?
Tatsächlich bleibe sich Biden hier treu, sagt Jäger: Für ihn sei immer klar gewesen, dass es in Afghanistan keine «Boots on the Ground» brauche. Sondern – wie auch in Syrien, dem Irak oder dem Jemen – gezielte Militärschläge gegen Terrorzellen. «Das Ganze wird wie schon unter Präsident Obama mit Luftaufklärung geschehen. Der Drohnenkrieg in Afghanistan wird sicher nicht zu Ende sein.»
Jäger schliesst: Ob die «Schande von Kabul» Bidens Präsidentschaft nachhaltigen Schaden zufügt, wird sich auch daran messen, ob den martialischen Worten Taten folgen.