Seit zehn Monaten bekämpfen sich in Sudan die sudanesische Armee und die Milizen der Rapid Support Forces mit grosser Brutalität. Die Fronten sind unklar und wechseln ständig – das hat verheerende Folgen für die Zivilbevölkerung. Eines der wenigen noch präsenten internationalen Hilfswerke sind die Médecins sans frontières (MSF). Deren Leiterin in Sudan, Claire Nicolet, spricht von katastrophalen Zuständen. Sie ist derzeit in Al-Faschir. Dort befindet sich mit rund 450'000 Menschen eines der grössten Lager für intern Vertriebene, das Camp Samsam.
SRF News: Können Sie die aktuelle Situation im Flüchtlingslager Samsam beschreiben?
Claire Nicolet: Die Situation ist sehr schwierig. Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge im Lager an. Sie sind gezeichnet von den Strapazen der Flucht. Aber auch für die, die schon länger hier sind, ist die Situation schlimm.
Die Menschen trinken deshalb verschmutztes Wasser aus Pfützen und dem Bach.
Es gibt zu wenig medizinische Versorgung. Essen und Trinkwasser gibt es kaum noch im Lager. Die Menschen trinken deshalb verschmutztes Wasser aus Pfützen und dem Bach. Lebensmittel müssen sie auf dem Markt der nahe gelegenen Stadt Al-Faschir kaufen. Die Situation ist katastrophal.
Wie ist der Gesundheitszustand der Menschen im Lager Samsam?
Er ist schlecht. Die Gesundheitsstation im Lager ist vollkommen überfordert. Die Sterblichkeitsrate ist sehr hoch: Sie ist mehr als doppelt so hoch wie während sonstigen Krisensituationen und zehnmal höher als unter normalen Lebensbedingungen. Wir schätzen, dass im Lager alle zwei Stunden ein Kind stirbt. Auch die Mangelernährung ist unglaublich hoch. 40 Prozent der Kinder und der schwangeren Frauen sind stark unterernährt.
Welche medizinische Versorgung können Sie derzeit für die Menschen im Lager noch leisten?
Wir bieten weiterhin allgemeine Untersuchungen an. Wir unterstützen auch die Spitäler in der nahe gelegenen Stadt Al-Faschir. Aber es gibt zum Beispiel seit Monaten überhaupt keine Impfstoffe mehr. Es fehlt auch an Medikamenten, weil wegen der Kämpfe kaum noch Nachschub kommt. Wir sind die einzige Organisation, die noch im Lager präsent ist. Und wegen der Grösse des Lagers können wir nur einen Teil der gefährdeten Menschen versorgen.
Wie ist die humanitäre Lage in anderen Teilen Sudans?
Auch in anderen Teilen des Landes ist die humanitäre Lage katastrophal, meist, weil es schwierig ist, Hilfslieferungen in bestimmte Gebiete zu bringen. Wir unterstützen zum Beispiel ein Spital in der Hauptstadt Khartum. Dieses liegt in einem Gebiet, das von den Milizen der Rapid Support Forces kontrolliert wird. Und die verweigern uns den Zugang. Es ist auch nicht mehr möglich, von der Hafenstadt Port Sudan Hilfslieferungen in Gebiete im Zentrum des Landes zu bringen.
Es werden noch viel mehr Menschen sterben, weil sie kein Essen und keine medizinische Versorgung bekommen.
Was sind die Folgen, wenn weitere Hilfe ausbleibt?
Es ist schrecklich, dies zu sagen, aber es werden noch viel mehr Menschen sterben, weil sie kein Essen und keine medizinische Versorgung bekommen. Wenn die internationale Gemeinschaft jetzt nicht entschieden auf die Not in Sudan reagiert, wird die Sterblichkeit weiter stark ansteigen. Die Menschen werden nicht nur an Hunger sterben, sondern auch an Krankheiten wie Malaria oder Masern. Wir werden katastrophale Zustände sehen, nicht nur in Darfur, sondern im ganzen Land.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.