Jair Bolsonaro hält die Brasilianer für ziemlich widerstandsfähig: Sie würden sich «nicht mal etwas einfangen, wenn sie im Abwasser tauchen». Das Coronavirus sei für die meisten ja nur «ein Grippchen». Die Medien beschuldigte er mehrfach, eine Hysterie zu schüren.
Längst wirkt der brasilianische Präsident wie ein Geisterfahrer in einer Welt im Krisenmodus. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, doch Bolsonaro weiss es besser - und seine Aussagen bleiben nicht ohne Folge. Nach einer Ansprache am letzten Mittwoch, bei der er Schul- und Ladenschliessungen kritisierte, öffneten etwa in den Favelas in Rio de Janeiro viele Läden wieder, die zuvor geschlossen hatten. Gestern drehte der Präsident gar eine Runde in der Hauptstadt Brasilia, mischte sich unters Volk und besuchte geöffnete Geschäfte.
Es ist ein offener Konflikt zwischen Regionalregierungen und Präsident: Die meisten der Gouverneure haben längst Massnahmen angeordnet. Darunter Dekrete, die alle Geschäfte die nicht der Grundversorgung dienen, zum Schliessen zu zwingen. Doch Bolsonaro widerspricht: Arbeiten zu gehen, das könne doch kein Verbrechen sein. Damit wendet er sich auch gegen seinen Gesundheitsminister, der einen Kollaps des Gesundheitssystems Ende April befürchtet. Und in einem Interview fragte, ob Brasilien wirklich dazu bereit sei, «auf den Strassen Lastwagen der Armee beim Leichentransport zu sehen? Mit Live-Übertragung im Internet?»
Bedürftige trifft es hart
Tatsächlich ist die Ausgangslage schwierig: Das Gesundheitssystem ist unterfinanziert und überlastet. Und für Millionen von Brasilianern ist es unmöglich, Quarantäne-Massnahmen einzuhalten: Sie leben von der Hand in den Mund. Bolsonaros Schlussfolgerung: The show must go on, Arbeiten muss möglich sein. Der Präsident warf den regionalen Behörden vor, «verbrannte Erde zu hinterlassen, indem sie die Bevölkerung einsperren.»
Den Bedürftigen tut Bolsonaro damit vermutlich keinen Gefallen. «Die Armen werden an den Eingangstüren der Spitäler sterben», prophezeite ein Chirurg und Professor der Universidad de São Paulo in einem Fernsehinterview. Das Parlament hat derweil ein Projekt für ein Hilfspaket für informelle Arbeiter wie Strassenverkäufer angestossen, das zwar als ungenügend kritisiert wird - dennoch zeigt diese Initiative klar: Die Abgeordneten suchen nach einer anderen Antwort auf die Corona-Krise als ihr Präsident.
Schuld auf andere schieben
Der Gouverneur von São Paulo, der bereits Quarantäne-Massnahmen angeordnet hat, hinterfragte kürzlich in einem Interview die geistige Gesundheit des Präsidenten. Das Verhalten Bolsonaros sei kein Zufall, vermuten andere: Indem er sich dafür ausspricht, die Wirtschaft am Laufen zu halten, könne er in einigen Monaten anderen die Schuld an der unvermeidbaren Krise geben. Eine heikle Strategie in einer Situation, in der es darum gehen sollte, Leben zu schützen.
Jeden Abend klopfen Tausende aufs Neue aus Protest gegen die Regierung auf Kochtöpfe, sie stehen an den Fenstern, auf den Balkonen. Doch auch Bolsonaros Unterstützer äussern sich lautstark. Am Dienstag wollen sie wieder losfahren, in Autokorsos, um in Regionen mit Quarantäne-Massnahmen die Wiedereröffnung aller Geschäfte zu fordern. Vor einer Ansteckung dürften sie in ihren Autos geschützt sein.