Der kleine weisse VW-Bus des Hilfswerks «Massaria Social» hält an der Praça Princesa Isabel. Vor der Pandemie war dieser Platz im Stadtzentrum von São Paulo ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen, nun leben hunderte obdachlose Menschen hier.
Obdachlose kämpfen ums Überleben
Das Hilfswerk verteilt jeden Morgen in der Innenstadt 2500 Maisbrötchen. Extra weich, wegen der schlechten Zähne der Obdachlosen. Menschen mit tief liegenden Augen und schlechter Haut, eingehüllt in Decken und Abfallsäcke, streiten sich beim Anstehen. Drängler werden fortgeschickt, der Hunger nagt an den Nerven.
Auch der 45-jährige André Luiz Soares wartet hier täglich auf das Frühstück, er sagt, das sei oft seine einzige Mahlzeit am Tag. «Ich muss einfach überleben. Darum bin ich hier. Vor ein paar Monaten habe ich nur eingehüllt in einer Wolldecke auf der Strasse geschlafen, nun habe ich immerhin ein Zelt. Rundherum erfrieren oder verhungern sie. Ich muss aufpassen.»
In São Paulo leben gut 12 Millionen Menschen, laut der Stadtverwaltung hat es vor der Pandemie 24’000 Obdachlose gegeben. Nun sind es wegen Corona 60 Prozent mehr. Dieser Anstieg ist höher als in anderen brasilianischen Städten, auch weil die Metropole São Paulo wie ein Magnet Menschen aus allen Teilen Brasiliens anzieht.
Im Stadtzentrum sieht man die Obdachlosen überall, sie nutzen jede Nische: Manche liegen auf Kartonblachen am Strassenrand, eingehüllt in diese grauen Decken, mit denen man beim Umzug die Möbel schützt. Andere bauen kleine Zelte auf, vor Kirchen oder Bahnhöfen, unter Brücken, in Hauseingängen oder hier auf dem Princesa-Isabel-Platz. Viele haben noch Erinnerungen aus ihrem alten Leben bei sich: ein Plüschtier, ein leeres Parfümfläschchen oder eine Barbiepuppe.
Hier ist niemand, weil er oder sie das will. Sondern weil wir durch die Situation dazu gezwungen sind und die Regierung keine Lösung hat.
André Luiz Soares hat im April vor einem Jahr wegen der Pandemie seine Stelle als Koch in einem italienischen Restaurant in São Paulo verloren. Dann ging alles sehr schnell: kein Lohn, kein Geld für die Miete. André landete auf der Strasse. «Hier ist niemand, weil er oder sie das will. Sondern weil wir durch die Situation dazu gezwungen sind und die Regierung keine Lösung hat», sagt Soares.
Systematische Gewalt gegen Obdachlose
In Brasilien arbeiten Millionen im informellen Sektor, ohne Arbeitsvertrag und ohne Anspruch auf staatliche Unterstützung. Wenn sie den Job verlieren, verlieren sie von heute auf morgen alles. Die Regierung von Präsident Jair Bolsonaro hat die staatliche Corona-Nothilfe mehrfach gekürzt. Vor allem aber haben Obdachlose keinen Anspruch auf dieses Geld: Sozialhilfe erhält nur, wer eine feste Adresse hat.
Padre Júlio Lancellotti, ein Priester einer kleinen Gemeinde im Viertel Mooca, engagiert sich seit über 30 Jahren für Obdachlose. Er gilt als die Instanz für soziale Arbeit in São Paulo. Lancellotti sagt, Bolsonaro wolle die Armen loswerden. «Die Regierung behandelt die Obdachlosen wie Abfall. Wir sehen einen Prozess einer Verunmenschlichung, diese Leute werden entwürdigt und als nutzlos betrachtet, bis sie sich selbst entwerten. Die Obdachlosen müssen eine sehr grosse Widerstandskraft aufbringen, um in so einer Situation zu überleben.»
Die Politik setzt auf Abschreckung und Vertreibung. Die Stadtverwaltung São Paulo betoniert seit Beginn der Pandemie regelmässig spitze Steine unter Brücken, damit sich die Obdachlosen nicht hinlegen können. Die Polizei greift sie mit Wasserwerfern und Tränengas an und vertreibt sie mit Gewalt. Aber wohin? Die wenigen Notschlafstellen sind komplett überlastet. Präsident Bolsonaro sagt zu den Obdachlosen, wenn sie Häuser oder Plätze besetzten, dann müssten Kugeln fliegen.
Der Hass auf die Armen ist riesig. Nur wegen des Schutzschildes der Hilfsorganisationen und pastoralen Gemeinschaften gibt es nicht noch mehr Gewalt gegen diese Menschen.
Obdachlosen-Priester Júlio Lancellotti kritisiert diese Politik gegenüber SRF News: «Die brasilianische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, welche auf Reinigung bedacht ist. Und Obdachlose sind Schmutz, welchen man wegmachen muss. Der Hass auf die Armen ist riesig. Nur wegen des Schutzschildes der Hilfsorganisationen und pastoralen Gemeinschaften gibt es nicht noch mehr Gewalt gegen diese Menschen.»
Dank Hilfswerken weg vom Leben auf der Strasse
Zurück auf dem Princesa-Isabel-Platz im Zentrum von São Paulo. Im kleinen blauen Iglu-Zelt lebt Flavio Correi. Er hört Musik von «Roxette». «It must have been love» klingt wie eine traurige Erinnerung an sein früheres Leben – «But it's over now». Die Balladen der schwedischen Gruppe lenken ihn ab. Am schlimmsten sei für ihn das ständige Gefühl, dreckig zu sein.
Flavio hat bis zur Pandemie in einem Hamburger-Imbiss gearbeitet. Auch er sei auf der Strasse gelandet, als das Restaurant wegen Corona schliessen musste, sagt er. «Seit ich obdachlos bin, habe ich schon viermal an Suizid gedacht. Ich kann so nicht leben! Vor ein paar Monaten bin ich stark betrunken zu Fuss über die Stadtautobahn getorkelt. Es ist nichts passiert, danach kam ich zehn Tage in die psychiatrische Klinik.»
Das Hilfswerk, welches jeden Morgen Frühstück verteilt, bildet jeweils 14 Obdachlose zu Bäckerinnen und Bäckern aus und lässt sie während der Dauer der Lehre in einer Wohnung übernachten. Flavio hat Glück und kann ab Oktober in diesem Hilfswerk mitarbeiten.
Dann wird er jeweils am Morgen die weichen Brötchen verteilen. Die, für die er selbst monatelang beim weissen VW-Bus angestanden ist.