Es war ein Abschied für immer, als die Mutter den 16-jährigen Igor in die Bäckerei schickte, um Hamburgerbrötchen zu holen. 20 Minuten später war der schwarze Sekundarschüler tot. Mit einem Genickschuss hatte ihn eine Streife der Militärpolizei am Rand der Grossstadt São Paulo liquidiert.
Igors Vergehen hatte laut Zeugen darin bestanden, davonzurennen, als die Beamten aufkreuzten. Er hatte einst ein Auto entwendet und war deswegen ein halbes Jahr in Haft. Seine Erfahrungen mit der Polizei müssen schmerzhaft gewesen sein.
Verdacht der Selbstjustiz
Der Rechtsprofessor Rafael Alcadipani von der Nichtregierungsorganisation «Forum für öffentliche Sicherheit» sagt zu dem Fall: «Es scheint sich um eine Exekution zu handeln. Sicher ist, dass die Polizei täglich missbräuchlich Menschen umbringt. Und sicher ist gewiss da auch der eine oder andere Fall von Selbstjustiz der Beamten dabei.»
Im Teilstaat São Paulo waren es allein im April zwölf solcher Übergriffe mit tödlichem Ausgang. Dazu kommen noch 104 weitere tödliche Polizeieinsätze. Im Unterschied zur Exekution von Igor gelten diese als offenbar rechtmässig und werden disziplinarisch nicht weiter untersucht.
Kurz: Auf dem Gebiet von São Paulo machte die Militärpolizei während der April-Quarantäne alle sechs Stunden kurzen Prozess und erschoss einen Menschen. Dies in einem Zeitraum, in dem es 30 Prozent weniger Diebstähle und Überfälle gab.
Bolsonaro befürwortete «Wildwest-Praktiken»
Dass in Zeiten mit deutlich weniger Straftaten die Zahl der Polizei-Todesopfer über 50 Prozent angestiegen ist gegenüber dem Vormonat, erklärt Militärpolizei-Sprecher Emerson Massera im Fernsehen so: «Es ist mehr Polizei unterwegs. Dank weniger Verkehr sind die Streifen schneller als sonst am Einsatzort. Also gibt es mehr bewaffnete Zusammenstösse; und folglich auch mehr Tote.»
In Wirklichkeit nimmt in Zeiten des Coronavirus die Polizeigewalt stark zu. Für Rafael Alcadipani fühlen sich die Beamten auf der sicheren Seite, seit sie einen wichtigen Fürsprecher haben. Den rechten Staatspräsidenten Jair Bolsonaro. «Die schiesswütigen Polizisten und die Toten haben auch damit zu tun, dass Bolsonaro Wildwest-Praktiken gutheisst und verteidigt», sagt der Rechtswissenschaftler.
Tatsächlich wollte Bolsonaro die im Strafgesetz festgeschriebene Unschuldsvermutung für die Polizei noch so ausweiten, dass für missbräuchlichen Schusswaffeneinsatz überhaupt kein Beamter mehr ins Gefängnis gekommen wäre. Doch das Parlament legte sich quer bei diesem Vorhaben.
Von zehn von der Polizei Erschossenen oder Totgeprügelten haben sieben ein übereinstimmendes Profil: Sie sind jung, schwarz oder farbig und stammen aus den grauen Vorstädten, in denen sich Not, Elend und Diskriminierung ballen.
Breite Proteste gegen die Exzesse gibt es in Brasilien nicht. Zwar brennen nach Exekutionen der Polizei am Stadtrand in São Paulo oft Strassenbarrikaden oder Busse. Aber Elitetruppen greifen immer schnell genug ein, damit es nicht zum breiten Volksaufstand kommt.