In Brasilien sterben täglich um die 1000 Menschen am Coronavirus. Bereits gibt es 21'000 Tote zu beklagen und 330'000 Erkrankte. Vielerorts sind die Intensivstationen überlastet, auf Friedhöfen werden Massengräber ausgehoben, doch das Chaos ist auch politischer Natur: Parallel zum sanitarischen Notstand steckt Brasilien inmitten einer schweren institutionellen Krise, die Präsident Jair Bolsonaro den Kopf kosten kann.
In der Mittel- und Oberschicht ist das Gröbste bei den Corona-Erkrankungen wohl überstanden. Ganz anders in der Unterschicht; in den Armenvierteln verbreitet sich der Erreger gerade mit rasender Geschwindigkeit, täglich stecken sich zwanzigtausend Menschen neu an.
WHO um Brasilien besorgt
Die Weltgesundheitsorganisation ist alarmiert: Südamerika sei das neue Corona-Epizentrum, sagt WHO-Nothilfedirektor Michael Ryan. In mehreren Ländern der Region verfolge man die Entwicklung mit Sorge, am stärksten jedoch in Brasilien.
Der sanitarischen Krise liegt ein toxischer Mix zu Grunde: Das öffentliche Gesundheitswesen ist überfordert. Der Staatschef verharmlost das Virus als «Grippchen» und attackiert die Gouverneure der Teilstaaten, die Abstandsregeln und die Schliessung der Geschäfte durchsetzen. Dazu steht der soziale Frieden auf der Kippe; Inkompetenz und Bürokratie treiben all jene zur Verzweiflung, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind in der Not.
Acht Angestellte habe er schon entlassen müssen, erklärt ein Kleinunternehmer im Fernsehen. Aber das Hilfsgeld fliesse nicht. Er müsse der Regierung erst beweisen, dass seine Firma tatsächlich existiere; dabei zahle er doch seit 15 Jahren die Firmensteuer. Man lässt mich zugrunde gehen, sagt er mit tränenerstickter Stimme.
Ich konnte ihnen nur sagen: Versucht es in anderen Spitälern.
Kompliziert ist es auch für Suzane Vieira. Die Infektiologin arbeitet am grössten Spital ion Salvador da Bahia an vorderster Front mit Coronakranken. «Gestern habe ich mehrere Anrufe von Ambulanzen bekommen; die Besatzungen waren auf der Suche nach Intensivpflegeplätzen. Hier sind alle belegt; also konnte ich ihnen nur sagen: Versucht es in anderen Spitälern.»
Diese Woche habe sie die meisten Toten gezählt, sagt die Ärztin. Der Zustand vieler Patienten habe sich so schnell verschlechtert, dass nicht einmal mehr die künstliche Beatmung etwas ausrichten konnte.
Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Bolsonaro
Mit Argwohn beobachtet die Medizinerin, wie Staatspräsident Jair Bolsonaro mit der Krise umgeht. Er hat gerade ein Malariamittel zur Wunderwaffe gegen das Virus erklärt, obschon es in klinischen Tests nicht nur wirkungslos war, sondern das Todesrisiko wegen Herzkomplikationen erhöhte. Bolsonaro will die Wirtschaft wieder zum Laufen bringen und alle Quarantänemassnahmen aufheben. Die Folgen wären ohne Zweifel dramatisch, das brasilianische Gesundheitssystem zum Kollaps verurteilt.
Bolsonaro steht inzwischen massiv unter Druck, allerdings wegen Machtmissbrauchs, der zur Demission seines Justizministers geführt hat. Nun ermitteln die Staatsanwälte; im Parlament türmen sich 32 Anträge für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro. Noch ist keines davon zugelassen. Der Grund ist wohl, dass eine mögliche Absetzung des Präsidenten in Zeiten der Corona-Epidemie Brasilien derart erschüttern würde wie kein Ereignis mehr seit dem Militärputsch von 1964.