Die Anfahrt auf die Bergbaustadt Barentsburg ist atemberaubend. Das tiefblaue Meer kontrastiert mit Gletschern und schneebedeckten Gipfeln, die in grosser Zahl aus dem Wasser hervorragen. Am Quai von Barentsburg, einer russischen Siedlung, wartet Dmitrii Negrutsa. Er trägt den Titel «Leiter der Abteilung für Kulturprojekte» des russischen Bergbauunternehmens Trust Arktikugol, dessen Hauptsitz sich im fernen Moskau befindet. Tatsächlich ist er so etwas wie der Mediensprecher des Staatsunternehmens, das schon seit Sowjetzeiten die grössten russischen Siedlungen auf Spitzbergen kontrolliert.
Barentsburg ist ein völkerrechtliches Unikum. Eine russische Kleinstadt auf dem Territorium des Nato-Landes Norwegen. Möglich macht dies der sogenannte Spitzbergen-Vertrag, der vor über 100 Jahren im damaligen Völkerbund ausgehandelt worden war.
Wir planen, den Kohleabbau von 120'000 Tonnen jährlich auf 40'000 Tonnen herunterzufahren und stattdessen auf die Forschung und den Tourismus zu setzen.
Er sprach den Archipel zwar Norwegen zu, erlaubt es aber allen 44 Unterzeichnerstaaten des Vertrages, vor Ort präsent und wirtschaftlich aktiv zu sein. Lange dominierte der Kohleabbau in Barentsburg. Das soll sich nun ändern, erklärt Dmitrii Negrutsa: «Wir planen, den Kohleabbau von 120'000 Tonnen jährlich auf 40'000 Tonnen herunterzufahren und stattdessen auf die Forschung und den Tourismus zu setzen», sagt er.
Mitten in Barentsburg liegt die Ortsschule: «Hier unterrichten wir 50 Kinder vom Kindergarten bis zur neunten Klasse», erzählt die aus dem russischen Jekaterinburg stammende Schulleiterin Tatyana Betcher und fügt hinzu: «Die Mehrheit unserer Kinder hat Ukrainisch als Muttersprache».
Über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird laut Betcher an der Barentsburger Schule nicht gesprochen. Dabei stammen viele Familien in Barentsburg aus der Region Donbass. Diese wird seit 2014 von russischen Separatisten kontrolliert.
Spitzbergen-Vertrag schreibt Weltoffenheit vor
Auch Mediensprecher Dimtrii Negrutsa möchte die Politik am liebsten dort lassen, wo sie gegenwärtig für grosse Probleme im In- und Ausland sorgt: im fernen Russland. Einfach fällt das hier in der Arktis, auf halbem Weg zwischen Nordkap und Nordpol jedoch nicht: Der 1920 im Völkerbund – der Vorgängerorganisation der UNO – ausgehandelte Spitzbergen-Vertrag übertrug zwar die Souveränität des Archipels Norwegen, gestattet es jedoch allen Unterzeichnerstaaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern, auf Spitzbergen wirtschaftlich aktiv zu sein. So versucht nun auch Moskau aktiv, Partnerländer wie China und Brasilien für den Aufbau einer gemeinsamen Forschungsstation in der Arktis zu gewinnen – und damit den eigenen Einfluss auf die Region zu stärken.
Eingebrochen ist in Barentsburg in den letzten Jahren jedoch die Zahl der Touristinnen und Touristen: «2019 hatten wir hier noch über 30'000 Gäste, jetzt sind es noch knapp 5000», sagt Dmitrii Negrutsa. War zunächst die Pandemie für den Rückgang verantwortlich, ist es seit dem Februar 2022 der russische Angriffskrieg. Als Folge davon beschloss die wichtigste Tourismusorganisation der Inselgruppe – «Visit Svalbard» – die russischen Siedlungen auf Spitzbergen zu boykottieren. Dazu gehört neben der Bergbaustadt Barenstburg die frühere sowjetische Siedlung Pyramiden, heute ein riesiges Freilichtmuseum.
Dieser politisch motivierte Tourismusboykott unserer Siedlung widerspricht dem weltoffenen Geist dieser Insel, wie er im Spitzbergen-Vertrag festgelegt worden ist.
Der Sprecher des russischen Staatsunternehmens kritisiert den aktuellen Tourismus-Boykott: «Dieser politisch motivierte Tourismusboykott unserer Siedlung widerspricht dem weltoffenen Geist dieser Insel, wie er im Spitzbergen-Vertrag festgelegt worden ist», sagt Dimtrii Negrutsa.
Dem widerspricht jedoch die Vizegouverneurin von Spitzbergen, Katharina Rise, die ihr Büro 50 km weiter östlich, im norwegisch dominierten Hauptort Longyearbyen hat.
«Wir pflegen gute und respektvolle Beziehungen zur russischen Seite und diskriminieren niemanden», betont Katharina Rise. Sie räumt aber auch ein, dass derzeit der sportliche und kulturelle Austausch zwischen den norwegischen und russischen Siedlungen auf Eis gelegt wurde, wie auch die meisten touristischen Aktivitäten.
Auch Oslo setzt nun ganz auf die nationalen Interessen im hohen Norden. «Angesichts der geopolitischen Situation in der Arktis ist es wichtig zu unterstreichen, dass Norwegen die volle Souveränität über die Inselgruppe besitzt. Von politischer Seite besteht der Wunsch, dass Longyearbyen eine norwegische Siedlung mit einer norwegischen Lokalregierung ist, die norwegische Werte vertritt», erklärt Vizegouverneurin Katharina Rise.
Diese aktuellen politischen Entwicklungen stellen den Spitzbergen-Vertrag, den auch die Schweiz unterschrieben hat, auf den Prüfstand. Sie machen deutlich, dass selbst eine seit über hunderte Jahre bewährte internationale Lösung heute unsicheren Zeit entgegengeht. Nach dem lebendigen Miteinander der letzten Jahrzehnte zeichnet sich für das nördlichste bewohnte Gebiet der Welt nun ein frostiges Nebeneinander ab – wenn nicht gar ein konfrontatives Gegeneinander.