Wirtschaftlich stark verflochten, hofft man in Gibraltar und in der spanischen Grenzstadt La Línea gleichermassen darauf, dass Grenzformalitäten und Warteschlangen ab Januar nicht ausufern. «Wenn ich um 16 oder 17 Uhr Feierabend habe, will ich nicht erst um 21 Uhr zu Hause sein», sagt Antonio Esteban aus La Línea, der seit 11 Jahren als Lagerist in einer Speditionsfirma in Gibraltar arbeitet. Hier hat er, was er zu Hause nicht hat: einen fixen Arbeitsvertrag. In La Línea ist die Arbeitslosigkeit mit 39 Prozent auf Rekordhöhe, umso dringender ist er auf die Arbeit in Gibraltar angewiesen.
Auf ihn angewiesen ist umgekehrt auch sein Chef in Gibraltar, Thomas Howard von GibCargo. Seine Lageristen, Chauffeure und Büro-Angestellten sind fast ausschliesslich Spanier und Spanierinnen. Howard und Esteban geben sich zuversichtlich. Man sei auf alles gefasst, im Übrigen hat Howard in die Tochterfirma auf der anderen Seite der Grenze investiert, in La Línea. Das gibt ihm Ausweichmöglichkeiten und die nötige Gelassenheit.
Hoffnung auf lokale Brexit-Lösung
Auch offiziell gibt man sich auf beiden Seiten zuversichtlich. Wenn nicht in letzter Sekunde ohnehin ein Abkommen zwischen London und Brüssel zustande komme, dann stehe hoffentlich möglichst rasch zumindest eine lokal zufriedenstellende Lösung für die Grenzregion Gibraltar – sagt Joseph Garcia, Vize-Regierungschef und Brexit-Verantwortlicher von Gibraltar: «Wir arbeiten zusammen mit Grossbritannien, Spanien und der EU an einer künftigen Beziehung zwischen Gibraltar und der EU, die aggressive Grenzkontrollen verhindert. Das könnte eine Art gemeinsames Gebiet sein mit dem Schengenraum. Möglicherweise finden wir eine einmalige massgeschneiderte Abmachung.»
Wir arbeiten zusammen mit Grossbritannien, Spanien und der EU an einer künftigen Beziehung zwischen Gibraltar und der EU, die aggressive Grenzkontrollen verhindert.
Er erinnert daran, dass der Handel, die Verflechtung mit der Aussenwelt am Fuss dieses knapp sieben Quadratkilometer-Fleckens für alle derart offensichtlich sei, dass von den 34'000 Einwohnerinnen und Einwohnern 96 Prozent gegen den Brexit gestimmt hatten. Nach dem Schock übers Resultat habe sich seine Regierung aber auf alle Varianten vorbereitet, ob Brexit mit oder ohne Abkommen.
Gut, dass auch auf offizieller spanischer Seite die üblichen Ansprüche auf geteilte Souveränität Gibraltars zumindest vorläufig beiseitegelegt wurden. Gut auch, dass die Veto-Drohungen während den Brexit-Verhandlungen pragmatischen Ansätzen gewichen sind. Spanien stimmte dem Brexit-Vertrag im November 2018 zu, als Brüssel und London versprachen, Madrid bei allen Verhandlungen betreffend Gibraltar direkt einzubeziehen. Spanien wollte mitreden bei Steuerpolitik, Arbeitnehmerrechten, Sicherheit, Verteidigung und Umweltfragen.
Gegenseitige Abhängigkeit
Vitales Interesse an einer möglichst offenen Grenze hat auch der Bürgermeister von La Línea, José Rodríguez: «Wir sind gegenseitig aufeinander angewiesen. Die täglich 15'000 Spanierinnen und Spanier, die in Gibraltar arbeiten, stellen dort über die Hälfte der Arbeitskräfte. Eine harte Grenze wäre für alle fatal. Ich bin sicher, es wird eine Lösung im Interesse von uns allen geben.» Sie ist nötig, denn es warten so oder so neue Formen der Zusammenarbeit gerade im Polizei- und Zoll-Alltag.
Eine harte Grenze wäre für alle fatal. Ich bin sicher, es wird eine Lösung im Interesse von uns allen geben.
Die Regierungen von Spanien und Gibraltar sähen Gibraltar gern im Schengenraum. Offen ist, wie London dazu steht. Im Moment scheint das ein Wunschdenken an dieser Südspitze Europas.