Die britische Labour-Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn hat ihr schlechtestes Wahlergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg eingefahren. Premierminister Boris Johnson wird die stärkste konservative Fraktion seit 1987 anführen. Er verfügt nun über schier unbegrenzte Macht.
Mandat für Brexit
Johnson, der in seinem Wahlkreis ausserhalb Londons bequem wiedergewählt wurde, verfügt nun über ein klares Mandat, seinen Brexit umzusetzen. Er wolle die Gesetzgebung noch vor Weihnachten vors Unterhaus bringen, um am 31. Januar formell auszutreten, sagte er in Uxbridge.
Anschliessend beginnen die Verhandlungen mit der EU über einen definitiven Handelsvertrag. Diese sollen, laut Johnson, bis zum Jahresende abgeschlossen sein, was in Brüssel allerdings bezweifelt wird.
Neue politische Topografie
Das exakte Endresultat steht nahezu fest, doch die ausgezählten Ergebnisse bestätigen die Wählerbefragung vom Abend zuvor weitgehend. Johnson darf mit 362 Sitzen rechnen, das wären über vierzig mehr als er für die absolute Mehrheit braucht. Labour dagegen würde sechzig Sitze verlieren und auf rund 203 zurückfallen.
Diese Verluste liegen überwiegend im englischen Norden, im englischen Mittelland, in Schottland und in Nord-Wales. Die Tories eroberten Mandate in alten, oft ehemaligen Industrie- und Bergbaustädten, die seit Jahrzehnten unverbrüchlich Labour gewählt hatten. Die Verluste der Labours waren deutlich höher als die Zugewinne der Konservativen. Oftmals hatten diese Wahlkreise für den Brexit gestimmt.
Boris, quo vadis?
Jeremy Corbyn, dem weite Teile der Labour-Partei eine Mitschuld am schlechten Abschneiden seiner Partei anlasten, kündigte bereits an, er werde nur noch für eine reflektierende Übergangsphase Parteichef bleiben. Die liberaldemokratische Vorsitzende Jo Swinson verlor gar ihren schottischen Sitz; ebenso der Fraktionschef der nordirischen DUP, Nigel Dodds. Doch die brennende Frage nach diesem klaren Wahlresultat bleibt unbeantwortet: Welche Richtung wird die neue Regierung einschlagen?
Zwei Faktoren deuten auf eine sanftere Politik hin. Zum einen ist Johnson nicht mehr auf die Unterstützung der harten, rabiaten «Brexiteers» in seinen eigenen Reihen angewiesen. Zum anderen muss er die Wünsche seiner neuen Wähler berücksichtigen – sie wünschen sich einen fürsorglichen, grossen Staat, ganz im Gegensatz zu den Präferenzen des rechten Flügels der Tories, der prominent in der derzeitigen Regierung vertreten ist.
Aufwind für Nationalisten
Boris Johnsons Tories stehen für einen englischen Nationalismus, der ursächlich für den Brexit verantwortlich gewesen war. Spiegelbildlich triumphierte die sozialdemokratische SNP, die schottischen Nationalisten, die mit über 50 der 59 schottischen Sitze rechnen dürfen. Sie interpretieren dies als Mandat gegen den Brexit und für die Unabhängigkeit.
Selbst in Nordirland ist dieser Trend zur Fragmentierung nachweisbar: Die pro-britischen, protestantischen Unionisten werden erstmals seit der Teilung Irlands nur noch eine Minderheit der nordirischen Wahlkreise vertreten; irische Nationalisten, die eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland befürworten, haben zugelegt. Das Vereinigte Königreich, das sich nun zum EU-Austritt anschickt, ist fragiler geworden.