Für Boris Johnson – erst seit sechs Monaten im Amt des britischen Premierministers – geht es um alles oder nichts: Er muss die Parlamentswahl mit einer absoluten Mehrheit der Sitze gewinnen, denn er wird kaum Verbündete im neuen Unterhaus finden.
Klare Alternative
Doch auch für das Vereinigte Königreich – für England, Schottland, Wales und Nordirland – geht es um die eigene Zukunft. Für einmal unterscheiden sich die Angebote der beiden Gross-Parteien diametral. Johnson verspricht, per 31. Januar 2020 aus der EU auszutreten und bis zum Ende des Jahres einen Handelsvertrag mit der EU ratifiziert zu haben. Brüssel hat am Mittwoch noch ein grosses Fragezeichen hinter diesen Terminplan gesetzt.
Oppositionsführer Jeremy Corbyn dagegen schwebt ein radikaler, teurer Umbau der britischen Wirtschaft und Gesellschaft vor – den Brexit behandelt er als lästiges Hindernis.
Der Staat wird grösser
Beide Parteien wollen die Sparpolitik des letzten Jahrzehnts beenden. Das Gesundheitswesen, die Schulen, die Polizei und die Gemeinden sollen mehr Geld erhalten; von Labour viel mehr Geld. Überdies will Corbyn die Altenpflege kostenlos anbieten und die Versorgungsunternehmen (Wasser, Eisenbahn, Gasnetz und grosse Teile des Nahverkehrs) verstaatlichen.
Beim Brexit vertritt Corbyn nach wie vor eine schwer vermittelbare Position. Er will mit der EU einen sanfteren Austritt aushandeln. Anschliessend soll das Volk erneut an der Urne zwischen diesem Paket und dem Verbleib in der EU entscheiden, wobei Corbyn selbst dabei neutral bleiben will.
Polarisierte Gesellschaft
Johnsons Konservative gingen mit einem klaren Vorsprung in diese Wahl. Doch die Lücke schliesst sich zunehmend, nicht zuletzt, weil sich alle anderen gegen ihn verbündet haben. Viele Wählerinnen werden taktisch wählen, um eine der beiden grossen Parteien zu blockieren.
Es ist Johnson gelungen, die Anhänger von Nigel Farages Brexit-Partei für sich zu gewinnen; Farage hat sich weitgehend selbst demontiert. Umgekehrt hat Labour Zulauf aus den Reihen der Liberaldemokraten erhalten, deren Wahlkampf niemanden so recht zu überzeugen vermochte. Doch Labour kann unmöglich aus eigener Kraft gewinnen (dafür fehlen die schottischen Sitze, die an die dortigen Nationalisten fallen werden) und muss mit Partnern verhandeln.
Ideologische Meinungsverschiedenheiten sind weitgehend von der Schicksalsfrage Brexit überlagert worden. Die Wähler der Konservativen wissen um Johnsons dubiosen Umgang mit der Wahrheit, Labours Gefolgsleute bezweifeln Corbyns Eignung zum Premierminister. Selten sind so viele Unwahrheiten, so viele irreführende Behauptungen hoch offiziell verbreitet worden. Die Britinnen und Briten sind des Brexits und des Wählens überdrüssig. Nun müssen sie das kleinere von zwei Übeln wählen.