Donco Stojkov schaut nach den beiden Schweinen, die er in seinem Garten hält. Daneben züchtet er Gemüse. Die Gurken sind schon reif, die Tomaten brauchen noch etwas Zeit. Der 70-Jährige lebt in einem kleinen Dorf, nahe der Grenze zu Bulgarien.
Im Moment sei er allein hier, erzählt Donco Stojkov. Seine Frau besucht gerade den gemeinsamen Sohn und die Enkelkinder in der Schweiz. Sie gehe jeweils für drei Monate. Solange also, wie es das Schengenvisum erlaubt. Der Sohn lebt schon lange in der Romandie.
Um im Schengenraum arbeiten zu können, hat sich der Sohn einen bulgarischen Pass besorgt. Das war zeitweise sehr einfach, man brauchte dafür nur eine Meldeadresse in Bulgarien. Nach einer Wartezeit von sechs Monaten und dank einer Bezahlung von 300 Euro an der richtigen Stelle wurde er zum bulgarischen Staatsbürger. Donco Stojkovs Sohn hatte damals wohl nicht damit gerechnet, dass er deshalb irgendwann Teil eines Streits zwischen Nordmazedonien und Bulgarien wird.
Bulgarien fordert eine Verfassungsänderung
Bulgarien beruft sich auf die mehr als 100'000 Mazedonier und Mazedonierinnen, die sich wie Doncos Sohn in den letzten 20 Jahren einen bulgarischen Pass besorgt haben. Die Forderung: Nordmazedonien soll die bulgarische Minderheit in der Verfassung anerkennen. Ansonsten werde man die EU-Beitrittsverhandlungen erneut blockieren.
Bei der letzten Volkszählung in Nordmazedonien identifizierten sich allerdings nur etwas mehr als 3000 Bürgerinnen und Bürger als bulgarisch.
Ein Ticket in die EU
Wie Donco Stojkovs Sohn sind viele andere im Dorf mithilfe des bulgarischen Passes ins Ausland gegangen. «Sie sind nach Italien, in die Schweiz oder nach Deutschland», sagt Donco Stojkov. «Jetzt findest du im Dorf nur noch Leute aus meiner Generation.» Seine Nachbarin pflichtet ihm bei. In der Schule gebe es aktuell nur noch fünf Kinder.
Auch der Sohn von Blagica Stojkova lebt und arbeitet seit Jahren in der Schweiz. Direkt, nachdem Bulgarien 2007 der EU beigetreten ist, habe er den Pass beantragt und sei dann gleich ausgewandert.
Bulgarien behauptet, Nordmazedonien sei eigentlich Teil Bulgariens.
Es sei ausschliesslich darum gegangen, mithilfe des Passes nach Europa zu gehen, erzählt die Frau im Pensionsalter. Sie sei Mazedonierin, daran ändere der Pass des Sohnes nichts. Auch Donco Stojkov hat sich nie um einen bulgarischen Pass bemüht. Er brauche ihn nicht, sagt der Rentner am Gartentisch.
Sinkende Nachfrage nach bulgarischem Pass
Er habe noch nie jemanden getroffen, der aus Identitätsgründen einen bulgarischen Pass beantragt hat, sagt der Journalist Vane Trajkov. Er arbeitet seit 25 Jahren in der Kleinstadt Strumica für regionale und nationale Medien und hat den Exodus miterlebt. Er schätzt, etwa ein Viertel aller Bewohnerinnen und Bewohner in dieser Region haben mittlerweile auch die Staatsbürgerschaft des Nachbarlandes.
Die bulgarische Grenze ist nur etwa 30 Kilometer entfernt. Die für den Pass nötige Meldeadresse sei gegen ein kleines Entgelt schnell gefunden worden.
Mittlerweile beantragten aber nicht mehr so viele einen zweiten Pass. Dafür gäbe es mehrere Gründe. Viele, die gehen wollten, seien schon weg. Auch hat Bulgarien die Regeln verschärft. Hinzu kommt, dass es aufgrund des Arbeitskräftemangels in Westeuropa nun auch mit einem nordmazedonischen Pass einfacher geworden ist, ein Schengenvisum zu erhalten. Doch auch der Streit mit Bulgarien spiele eine wichtige Rolle, ist Vane Trajkov überzeugt.
«Bulgarien behauptet, Nordmazedonien sei eigentlich Teil Bulgariens und die mazedonische Sprache sei nur ein Dialekt des Bulgarischen», sagt Vane Trajkov. Das verletze den Nationalstolz vieler Mazedonier und Mazedonierinnen.
Ein Streit um den gleichen Helden
Im Streit geht es im Kern um die nationale Identität Nordmazedoniens. Die Gründe dafür liegen in der über lange Zeit gemeinsamen Vergangenheit der beiden heutigen Staaten: erst im Bulgarischen Grossreich, dann im Osmanischen Reich. Ereignisse und Figuren aus dieser Zeit werden heutzutage von beiden Seiten beansprucht.
Dies zeigt sich exemplarisch auf dem Hauptplatz von Strumica. Dort steht eine grosse Statue von Goze Delchev. Ein mazedonischer Nationalheld, wie ein Passant erklärt: «Er ist im Kampf für ein freies Mazedonien gestorben». Er wird deshalb in der Nationalhymne geehrt.
Goze Delchev war ein junger Revolutionär, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Osmanen kämpfte. Das Problem ist nur: Auch Bulgarien reklamiert Goze Delchev für sich. So gibt es im Land eine Kleinstadt, die seinen Namen trägt. Auch ein Berg ist nach ihm benannt. Nun streitet man sich um die Frage, ob Goze Delchev für ein freies Mazedonien oder ein unabhängiges Bulgarien kämpfte und ob er Bulgare oder Mazedonier war.
Zündstoff für EU-Verhandlungen
Der Streit zwischen den Nachbarländern dauert nun schon einige Jahre. Bulgarien hat deswegen gar zeitweise die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien blockiert und droht weiterhin mit einem Veto, sollten die Forderungen nicht erfüllt werden.
Viele in Nordmazedonien wollen sich dies nicht mehr gefallen lassen. Schliesslich hat das Land bereits den Namen gewechselt, um die Blockade Griechenlands in einem ähnlichen Streit zu lösen. Die Hoffnung war damals gross, dass es damit nun in den Verhandlungen mit der EU endlich vorwärtsgeht. Das bulgarische Veto hat diese Hoffnungen zerstört. Auch deshalb kam es vor ein paar Wochen bei den Wahlen zu einem Machtwechsel. Die neue, rechtsgerichtete Regierung verspricht gegenüber Bulgarien eine härtere Position zu vertreten.
Kommission soll historische Fragen klären
Dabei schien vor einigen Jahren eine Annäherung möglich. Damals wurde eine Kommission gebildet, bestehend aus Historikern und Historikerinnen beider Länder, um die strittigen historischen Fragen zu klären. Präsidiert wird die mazedonische Seite von Dragi Gjorgiev.
Der Mythos um Goze Delchev sei eher ein emotionales statt eines rationalen Thema, sagt der Historiker in seinem Büro in der Hauptstadt Skopje. Das mache es schwierig, nüchterne Antworten zu finden. Politiker und Politikerinnen beider Länder mischten sich zudem immer wieder in die Diskussion mit ein und emotionalisieren das Ganze so zusätzlich.
Die Kommission arbeitet seit sechs Jahren. Zu Beginn hätten sie Kompromisse finden können. Doch zuletzt habe Bulgarien immer mehr abgeblockt. Das Land könne sich das leisten, denn es agiere aus einer Position der Stärke und nutze die EU-Mitgliedschaft aus, um Druck auszuüben. Dragi Giorgiev rechnet daher nicht damit, dass es in absehbarer Zeit Lösungen geben werde. Zumal jene Partei, welche die neue Regierung Nordmazedoniens anführen wird, die Arbeit der Kommission früher mehrmals kritisiert hatte.
Wie werden sich die Wahlsieger positionieren?
Die Frage ist nun, wie sich die Wahlsieger in den Verhandlungen verhalten werden. Zwar haben sie im Wahlkampf noch ausgeschlossen, auf den Kompromiss mit Bulgarien einzugehen. Doch auch sie wissen, dass eine überwältigende Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in die EU will. Auch dürfte ihnen klar sein, dass Bulgarien in diesem Streit am längeren Hebel sitzt.
Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass sie trotz allem den Forderungen nachgeben und die bulgarische Minderheit in die Verfassung aufnehmen werden. Ohne Garantien Bulgariens, auf weitere Forderungen zu verzichten, dürften sie dies allerdings kaum durchsetzen können.