Die kleine Sahlan blinzelt durchs Moskitonetz. Ein Leben voller Ungewissheit erwartet das Mädchen. Sahlan wird ihr Schicksal vielleicht nie selbst bestimmen können. So geht es den meisten Flüchtlingen im Lager Dadaab.
Sahlans Mutter Mariam Abdi Hassan (20) kam bereits im Flüchtlingslager zur Welt. Sie hofft, dass Sahlan dereinst mehr Freiheiten hat. Auch der Vater, Mohamed Abdi Aden (26), wurde hier geboren. Er erklärt: «Das Reisen ist mir als Flüchtling verboten. An der ersten Strassensperre der Polizei werde ich zurückgeschickt.»
Ein offenes Gefängnis
Dadaab besteht aus hunderten von Zelten, Hütten und Häusern. Über 200'000 Menschen leben hier, ihre Grundstücke sind umgeben von Zäunen aus Dornbüschen. «Stadt der Dornen» nennt der Buchautor Ben Rawlence das Lager deswegen.
Der Arzt Suleiman Ali Omar lebt seit der Gründung des Lagers in den 1990er-Jahren hier. «Es ist ein offenes Gefängnis», sagt er.
Im Lager erhalten die Menschen eine Grundversorgung an Essen, Bildung und Medizin. Das reicht ihnen zum Überleben, doch zum Leben ist es nicht genug.
Vater Mohamed sagt, es fehle vor allem an Arbeit. Mohamed musste seinen Lebensmittelladen aufgeben. Wegen der Schwangerschaft seiner Frau hatte er nicht mehr genügend Zeit, sich um den Laden zu kümmern – er wurde zum Verlustgeschäft.
Eselskarren und Kamelmilch-Handel
Im abgelegenen und heissen Dadaab gibt es für die Flüchtlinge fast keine Möglichkeit, wirtschaftlich voranzukommen. Viele versuchen sich im Kleinhandel. Dutzende Frauen sitzen am Strassenrand und kochen Kamelmilch auf, die sie später verkaufen – Somali trinken ihren Tee mit Kamelmilch.
Die Männer betreiben kleine Geschäfte oder transportieren mit Eselskarren Waren. Produziert wird im Lager nur wenig. Arbeitsstellen bieten praktisch nur die zahllosen Hilfsorganisationen. Viele Bewohner erhalten Überweisungen von Verwandten im Ausland.
Essensrationen werden kleiner
Einmal im Monat erhalten die Flüchtlinge ihre Lebensmittelration vom Welternährungsprogramm (WFP). Eine Familie mit drei Personen hat Anspruch auf 26 Kilogramm Reis und 5 Kilogramm Linsen, dazu kommen ein Kilogramm Salz und drei Liter Öl. «Das reicht nicht für meine Familie», sagt Mohamed. Auf dem Markt kauft er einige Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln dazu – wenn das Geld reicht.
Die Essensrationen in Dadaab sind kleiner geworden. Im September musste das Welternährungsprogramm die Nahrungsrationen um über ein Viertel verkleinern, es fehlte das Budget. Das wiederum spielt der Regierung Kenias in die Hände, welche das Flüchtlingslager eigentlich schliessen will.
Basis für Terroristen?
Dem Staat Kenia ist das Flüchtlingslager ein Dorn im Auge. Die Regierung glaubt, dass es der somalischen Terrormiliz al-Shabaab als Basis dient. Al-Shabaab verübt immer wieder grössere Terrorattacken in Kenia – zuletzt im Januar 2019 in Nairobi.
Doch das grösste Problem ist die Terrormiliz in Somalia. In vielen Regionen regiert al-Shabab – oder verbreitet zumindest Angst und Schrecken. Solange in Somalia keine Sicherheit herrscht, wollen die meisten Bewohner des Flüchtlingslagers nicht nach Hause zurückkehren.
Eine traditionelle Gemeinschaft
Aus dem Camp Hagadera im Lager Dadaab hat sich seit der Gründung 1991 eine kleine Stadt entwickelt. Zwischen den Dornbuschzäunen tragen Mädchen Wasserkanister nach Hause.
Dadaab ist wie Somalia selbst traditionell konservativ. So sind die Rollen in der somalischen Gesellschaft klar verteilt.
Frauen und Mädchen arbeiten im Haus, kochen, putzen, waschen. Die Jungs treffen sich zum Fussballspiel auf einem sandigen Platz, solange es nicht zu heiss ist.
Krankheiten nehmen zu
Mariam und Tochter Sahlan haben Besuch erhalten. Nachbarinnen schauen vorbei, diskutieren über Geburtserfahrungen. Mariam brachte Sahlan im Spital des Lagers zur Welt. Andere Frauen haben Hausgeburten hinter sich.
Sahlan liegt unterdessen unter einem kleinen Zelt aus Moskitonetz. «Die Moskitos kommen auch am Tag», klagt eine der Frauen. Die Mücken übertragen Krankheiten wie Malaria. Doch im Flüchtlingslager ist vor allem die Hygiene ein Problem, immer wieder kommt es zu Ausbrüchen von Typhus oder Cholera.
Natürlich würde ich gerne einen besseren Service bieten.
Der Arzt Omar behandelt seine Patienten auf einem Holztisch mit Matratze in einem Hinterzimmer. Seine Ausrüstung ist rudimentär, oft muss er improvisieren. «Natürlich würde ich gerne einen besseren Service bieten», gesteht er. In den letzten 25 Jahren sei die Gesundheit der Menschen im Lager schlechter geworden, erzählt der Arzt: «Wenn die Kinder weniger zu essen erhalten, sind sie öfters krank.»
«Vielleicht werde ich hier sterben.»
Wie alle im Lager hofft auch der 54-jährige Arzt darauf, dass er irgendwann doch noch in Europa oder Nordamerika als Flüchtling anerkannt wird. Dort wäre das Leben besser als im kargen und heissen Nordosten Kenias. Doch die Umsiedlung von Flüchtlingen wurde in den letzten Jahren praktisch eingestellt.
Der grauhaarige Mann schaut auf die staubige Strasse vor seiner Praxis und kratzt sich nachdenklich am Bart: «Vielleicht werde ich hier sterben. Viele, die mit mir ankamen, sind unterdessen tot.»