Aussenminister Ignazio Cassis hat in einem Interview mit der Zeitung «Nordwestschweiz» das UNO-Flüchtlingshilfswerk der Palästinenser (UNRWA) kritisiert. Diese sei Teil des Problems, sie führe den Nahostkonflikt weiter, sagte Cassis. Zuvor hatte er in Jordanien unter anderem eine Ausbildungsstätte für palästinensische Flüchtlinge besucht. SRF-Experte Fredy Gsteiger ordnet Cassis’ Aussagen ein.
SRF News: Hat Sie die Kritik des Aussenministers an der UNRWA überrascht?
Fredy Gsteiger: Das ist sehr ungewöhnlich. Die Schweiz stellte sich bisher immer sehr deutlich hinter das UNO-Palästinenserhilfswerk, wenn es unter Beschuss kam. Es gab wenig Kritik – ob der Aussenminister oder die Aussenministerin nun Burkhalter, Calmy-Rey oder Deiss hiess. Da gab es sehr viel Unterstützung für die UNRWA.
Das Hauptproblem der UNRWA waren aus Sicht der Schweiz bislang die Finanzen. Man sagte, die UNRWA habe zu wenig Geld, die Schweiz müsse helfen. Die Schweiz bezeichnet sich bis heute als strategischer Partner der UNRWA. Damit meint man eine langfristige, intensive Partnerschaft. Der neue Aussenminister Cassis scheint das nun ein Stück weit grundsätzlich infrage zu stellen.
Und er sagt, die UNRWA sei Teil des Problems. Wie meint das Cassis?
Er meint damit das Mandat der UNRWA. Anders als beim Hochkommissariat für Flüchtlinge, das sich um alle anderen Flüchtlinge in der Welt kümmert, gibt es bei der UNRWA eine Sonderregelung: Nicht nur jene rund 750'000 Palästinenser, die bei der Staatsgründung Israels ihre Heimat verlassen mussten, gelten als UNRWA-Flüchtlinge, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder. Das führt dazu, dass die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge im Lauf der Jahre nicht, wie es bei Konflikten üblich ist, abnimmt. Stattdessen steigt sie an; inzwischen gibt es fünf Millionen palästinensische Flüchtlinge.
Niemand kann sich vorstellen, dass fünf Millionen zusätzliche Menschen in Gaza und in der Westbank leben könnten.
Damit werden die Aufgaben der UNRWA immer grösser. Ausserdem können diese fünf Millionen ein Recht auf Rückkehr in ihre Heimat verlangen. Das ist in einem nahöstlichen Friedensprozess, der im Moment aber nicht wirklich existiert, ein grosses Problem. Niemand kann sich vorstellen, dass fünf Millionen zusätzliche Menschen in Gaza und in der Westbank leben könnten.
Hat die Meinung der Schweiz zur UNRWA Gewicht?
Sie ist ein langjähriger und ein gewichtiger Geldgeber. Wenn man die Grösse des Landes in Betracht zieht, gehört die Schweiz sogar zu den wichtigsten Geldgebern. Sie zahlt also überproportional viel. Dazu kommt, dass derzeit mit Pierre Krähenbühl ein Schweizer die UNRWA leitet. Das gibt der Schweiz einen gewissen Einfluss innerhalb der UNRWA.
Ist die UNRWA grundsätzlich infrage gestellt?
Die Kritik nimmt an Schärfe zu. Die Amerikaner, die einen Teil ihrer Beiträge für die UNRWA zurückhalten, sind längst nicht mehr die einzigen, die Reformen fordern. Grundsätzlich infrage gestellt wird sie aber, glaube ich, nicht. Denn es bräuchte eine Entscheidung der UNO-Generalversammlung, um das Mandat der UNRWA zu verändern. Eine solche Entscheidung wäre also etwa dafür nötig, wenn man die Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus' abschaffen will. Eine Mehrheit dafür ist in der UNO jedoch derzeit nicht zu erkennen.
Grundsätzlich infrage gestellt wird die UNRWA nicht.
Wenn aber die Kritik lauter und schärfer wird, könnte sie dazu führen, dass die UNRWA noch grössere Probleme hat, ihren Finanzbedarf von jährlich über einer Milliarde Dollar zu decken.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.