Haiti steckt einmal mehr im Elend – oder immer noch. Je nachdem, wie man es betrachtet. Erneut ist eine Cholera-Epidemie ausgebrochen, mindestens 161 Menschen sind daran letzte Woche gestorben. Hinzu kommt die seit Monaten grassierende Kriminalität und Gewalt. Die Journalistin Sandra Weiss kennt die Hintergründe der Misere.
SRF News: Wie steht es um die gesundheitliche Versorgung der Cholera-Patienten in Haiti?
Sandra Weiss: Die Zahl der Fälle hat sich innert einer Woche auf 8000 verdoppelt – und das in einer Stadt wie Port-au-Prince, die von bewaffneten Banden geradezu belagert wird. Für die Spitäler ist es sehr schwierig, alle Fälle zu behandeln, denn teilweise haben sie dafür gar nicht mehr genug Personal. Die internationalen Hilfsorganisationen haben ihre Präsenz wegen der schrecklichen Sicherheitslage teilweise eingeschränkt.
Ohne sauberes Wasser kann die Cholera nicht bekämpft werden.
Zudem blockierten kriminelle Banden über Wochen das Treibstofflager am Hafen. Doch ohne Diesel laufen die Generatoren nicht, mit denen die Stadt mit Strom versorgt wird. Ausserdem können die Wassertanklastwagen die Quartiere nicht versorgen, wenn sie keinen Treibstoff haben. Und ohne sauberes Wasser kann die Cholera nicht bekämpft werden. Die Situation ist dramatisch.
Die Regierung hat zusammen mit der UNO einen Spendenaufruf im Umfang von 140 Mio. Dollar lanciert. Wozu wird das Geld gebraucht?
Man braucht alles: Nahrungsmittel, Wasser, medizinische Güter. Haiti hatte mit der Cholera ja auch Pech: Sie wurde 2010 von UNO-Blauhelmen eingeschleppt. Beinahe konnte die Epidemie unter Kontrolle gebracht werden, doch nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse vor anderthalb Jahren glitt das Land ab in Chaos und Gewalt. Das führte auch zur jetzigen Cholera-Epidemie.
Kann internationale Hilfe angesichts der herrschenden Anarchie überhaupt dort ankommen, wo sie gebraucht wird?
Das ist tatsächlich eine logistische Herausforderung, denn praktisch alles muss importiert werden. Dabei bildet der Zoll eine erste Hürde, danach muss die Hilfe in die Armenviertel verteilt werden, wo die Banden ihre Hochburgen haben. Auch die Ausfallstrassen aus Port-au-Prince werden von Banden kontrolliert. Zudem haben die wenigen Hilfsorganisationen, die noch vor Ort sind, zu wenig Personal und arbeiten deshalb völlig am Anschlag und unter Lebensgefahr.
Ende Oktober hat der UNO-Sicherheitsrat neue Sanktionen gegen Haiti verhängt. Wen treffen die?
Die Sanktionen sind eine klare politische Botschaft an einige der grauen Eminenzen in Haiti an der Schnittstelle zwischen Politik und Kriminalität. Diesen Chefs der mafiösen Banden wurde ein Warnzeichen gesendet, dass es so nicht weitergeht. Prompt wurde kurz darauf die Belagerung der Treibstofftanks aufgehoben.
Niemand weiss, welchen Ausweg aus dieser Situation es gibt.
Haiti hat seit der Ermordung von Moïse keinen Präsidenten mehr. Wie lange soll das noch so bleiben?
Niemand weiss, welchen Ausweg es aus dieser Situation gibt. Haiti steckt in einem Teufelskreis: Es gibt keine vom Volk legitimierte Regierung, kein funktionierendes Parlament. Doch man kann in einer derart prekären Situation keine Neuwahlen abhalten – quasi unter vorgehaltener Pistole. Ausserdem ist das politische System total dysfunktional, weshalb einige eine neue Verfassung fordern. Doch die polit-mafiösen Kreise profitieren von dem Chaos und möchten jetzt Wahlen, um an der Macht zu bleiben. Sie sabotieren den Ruf nach einer neuen Verfassung. Die Lage ist komplett verfahren.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.