Als 1902 der weltberühmte Campanile des Markusdoms in Venedig einstürzte, war der Schock gross. Nach dem Motto «Com’era e dov’era», also «genauso wie er war und dort, wo er war», wurde der Turm in Rekordzeit wieder aufgebaut.
«Com’era e dov’era» ist mehr als eine Fussnote in der Geschichte Venedigs. Das geflügelte Wort ist zu einem Motto für den Umgang Italiens mit seinem reichen kulturellen Erbe geworden. Kein Land hat mehr Kunstdenkmäler, die von der UNESCO als Weltkulturerbe ausgezeichnet wurden.
Rom beispielsweise lebt buchstäblich von seiner Vergangenheit. Die italienische Hauptstadt verzeichnete 2023 die Rekordzahl von 35 Millionen Besucherinnen und Besuchern. Im Zentrum gibt es kaum wegweisende moderne Architektur, die mit den Bauten der Vergangenheit in einem Dialog steht. Böse gesagt: Jeder römische Ziegelstein bleibt, wo er war: «Com’era e dov’era».
Investitionen in Beton statt in die Zukunft
Italien ist ein Land, in dem die Nostalgie blüht. Für die Touristen sind die Kulturschätze Referenzpunkte. Sie lieben Italien, weil das Land scheinbar immer unverändert bleibt; weil es eine sonnige Vergangenheit quasi konserviert. Die Italienerinnen und Italiener hingegen sind von einer Nostalgie der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre besessen. Denn das war eine Zeit des Aufschwungs.
Es gibt sie zwar noch, die grossen italienischen Firmen, zum Beispiel Fincantieri in Triest, das grösste Schiffbauunternehmen Europas, oder den Mineral- und Energiekonzern ENI. Aber 2022 waren nur noch fünf italienische Firmen auf der Liste der weltweit 500 führenden Unternehmen; 1995 waren es noch doppelt so viele gewesen. Und die zehn oder 20 wichtigsten Firmen des Landes sind noch dieselben wie vor 50 Jahren, in den USA trifft das für keine einzige zu.
Italien hat zu wenig risikofreudige Unternehmer; nicht zufällig hat das Land auch eine der ältesten Bevölkerungen der Welt. Wer Geld hat, investiert bevorzugt in eine bequeme Vergangenheit, in «Mattone e Spaghetti», also in Beton, sprich Immobilien, und Restaurants. Die viertgrösste Volkswirtschaft der EU kann aber nur drei sogenannte Unicorns vorweisen, also Start-ups mit einem Marktwert von über einer Milliarde Euro.
Die Schweiz dagegen hat deren sechs und investierte 2022 pro Kopf 400 Euro in Start-ups, zehnmal mehr als Italien. Das sind die Zahlen einer wirtschaftlichen Nostalgie. Dazu kommt: In den letzten zehn Jahren haben mehr Menschen – vor allem junge – das Land verlassen als eingewandert sind.
Die Nostalgie schnürt einer Kleinstadt die Luft ab
Wie mutlos ein «Com’era – dov’era» sein kann, zeigt das Beispiel des mittelalterlichen Städtchens Camerino östlich von Perugia. Als Mittelitalien 2016 von einer Erdbebenserie erschüttert wurde – im Amatrice verloren damals 300 Menschen ihr Leben –, wurde auch Camerino in den Marken getroffen. Niemand starb, kein Haus stürzte ein, denn nach einem Beben 1997 waren die Gebäude zusätzlich gesichert worden.
Und dennoch starb die ganze Stadt: Denn 80 Prozent der historischen Altstadt müssten aus statischen Gründen abgerissen werden, erklärt der Lokalpolitiker Stefano Falcioni. «Wir haben nicht unser Leben verloren, sondern unser bisheriges Leben wurde uns geraubt.» Die grosse Politik habe beschlossen, dass alles wiederaufgebaut werden müsse, so wie es war, selbst Häuser aus den 1960er-Jahren. Seit dem Erdbeben habe sich die Einwohnerzahl halbiert und die Wirtschaftsleistung um ein Drittel verringert.
Denn die Altstadt ist auch noch acht Jahre nach dem Beben verwaist, die Häuser und Kirchen werden von riesigen Stahltrossen zusammengehalten, wie verschnürte Weihnachtspakete, die Fenster durch Holzkonstruktionen stabilisiert.
Wir müssen nicht die Vergangenheit wiederherstellen, sondern die Zukunft denken.
«Com’era – dov’era ist nicht konservativ, sondern mutlos», kritisiert Falcioni. «Wir müssen nicht die Vergangenheit wiederherstellen, sondern die Zukunft denken.» Camerino habe seit 1336 eine Universität, sei eine Stadt des Geistes, warum nicht innovative Unternehmen hier ansiedeln, fragt Falcioni: «Wir haben nie Küchengeräte und Schuhe hergestellt.»
Kleine Schritte in Richtung postindustrielles Zeitalter
In Turin hat man sich von der Nostalgie bereits verabschiedet. Notgedrungen. 1971 arbeiteten 60'000 Menschen für Fiat in Turin, heute sind es noch 11'000. Fiat war einst das Symbol der goldenen Jahre; die «Fabbrica Italiana Automobili Torino» war ein Synonym für die Stadt und der glamouröse Fiat-Chef Gianni Agnelli sogar «der ungekrönte König Italiens», wie ihn sein Freund Henry Kissinger lobte.
Fiat bedeutete einen sicheren Arbeitsplatz und damit Zukunft. Viele aus Sizilien zogen mit «armi e bagagli», also mit Sack und Pack, aus dem Süden nach Turin. Heute ist Fiat Teil eines internationalen Konzerns namens Stellantis, der in Amsterdam beheimatet ist.
Turin hat sich seit den olympischen Winterspielen 2006 vermehrt dem Tourismus und einer postindustriellen Zukunft zugewandt. Die berühmte Fiat-Fabrik in Turin-Lingotto aus den 1920er-Jahren mit einer Teststrecke samt gekrümmten Steilkurven auf dem Dach ist heute ein spektakuläres Freiluftmuseum mit 40'000 Pflanzen, 300 Insektenarten und zahlreichen eindrucksvollen Kunstwerken.
Ein Beispiel ist die Installation «Against the run» der polnischen Künstlerin Alicja Kwade, die eine Bahnhofsuhr konstruiert hat, die zwar die korrekte Uhrzeit anzeigt, sich aber gleichzeitig rückwärts bewegt. Sie soll als Erinnerung an einen Streik in den 1920er-Jahren dienen, als die Fiat-Arbeiter alle Werksuhren aus Protest eine Stunde zurückstellten.
Michelangelo im Apple-Design
Der berühmteste Antipode einer rituellen Nostalgie in Italien ist ausgerechnet der 55-jährige Museumsdirektor Eike Schmidt, der ursprünglich aus Freiburg im Breisgau stammt, inzwischen aber den italienischen Pass besitzt. Bis vor wenigen Wochen hat er die weltberühmten Uffizien in Florenz geleitet und landesweit für Aufsehen gesorgt; inzwischen ist er Direktor des Nationalmuseums Capodimonte in Neapel. Unter seiner Leitung wurde in Florenz im vergangenen Jahr erstmals die Marke von fünf Millionen Besuchern geknackt, und das Besondere daran ist: Ein Drittel des Publikums ist jünger als 25 Jahre.
Wie geht das? Ein Beispiel: Das runde Gemälde der Heiligen Familie von Michelangelo, genannt «Tondo Doni», ist in den Uffizien ohne Absperrung hinter kaum sichtbarem Glas zu bewundern, und «die Vitrine harmoniert bestens mit dem neusten Modell des iPhone», sagt Eike Schmidt stolz. Das ist nicht bloss Spielerei, sondern schlägt eine Brücke zur Gegenwart der Jungen.
Und man glaubt Schmidt sofort, wenn er sagt, dass sich die moderne chinesische Malerei auf die leuchtenden Farben und originellen Formen der Renaissance bezieht. Spätestens, wenn man zwei solche Bilder vergleicht. «Es gäbe den sozialistischen Realismus Chinas nicht ohne die Renaissance», sagt Eike Schmidt. So wird die Vergangenheit aktuell und spannend.
Als Schmidt 2015 seinen Posten in Florenz antrat, besassen die weltberühmten Uffizien nicht einmal eine Homepage. Die Adresse «uffizi.it» gehörte einem Blumenhändler. Inzwischen ist das Museum auch auf Instagram und Tiktok.
Ein junges Team gestalte den Auftritt in den sozialen Medien erfolgreich, erläutert Schmidt, weil «ironisch, frisch und witzig, im Sinne von intelligent». Inzwischen komme es immer wieder vor, dass an einem Freitagabend junge Leute vor einer Party die Uffizien besuchten.
Im Süden entsteht ein Zukunftsmodell für Italien
Wie die Zukunft aussehen könnte, demonstriert ausgerechnet die Region Apulien. Ihre Hauptstadt Bari beispielsweise, bislang vor allem bekannt für die traditionellen Orecchiette, also Pasta, liegt auf der Rangliste der innovativen Start-ups italienweit inzwischen an fünfter Stelle. Unmittelbar hinter den deutlich grösseren Städten Mailand, Rom, Neapel und Turin.
Apulien hat mehrere exzellente Hochschulen und ist eine der wenigen Regionen Italiens, die zu 80 Prozent durch ein Glasfasernetz erschlossen ist. Und Apulien sei die einzige Region Italiens, die alle zugewiesenen EU-Fördermittel rechtzeitig abrufen könne, dank einer effizienten Standortpolitik, sagt Domenico Colucci.
Der 34-Jährige ist ein erfolgreicher Jungunternehmer aus der Region. Sein Hightech-Start-up Nextome hat 20 Mitarbeiter und einen Umsatz von 1.5 Millionen Euro. Der neuste Kunde ist der japanische Mischkonzern Hitachi, der mehr Angestellte zählt als Bari Einwohner. Über Linkedin habe ihn Hitachi kontaktiert, erzählt Colucci, der sich mit seiner Firma auf dem Gebiet der Real Time Location spezialisiert hat.
Es geht darum, den Standort von Logistikgütern oder auch Menschen in Echtzeit zu lokalisieren. Hitachi möchte mithilfe von Colucci eine App entwickeln, die Kunden empfiehlt, welche Verkehrsmittel sie am besten benutzen, um möglichst schnell ans Ziel zu gelangen.
Colucci stammt aus Conversano, einer Kleinstadt 30 Kilometer südlich von Bari. Seine Arbeit ermöglicht ihm, was vielen im Süden lange nicht möglich war. Er muss nicht emigrieren, um Arbeit zu finden. Er kann zu Hause leben und arbeiten. Ohne Heimweh und Nostalgie.