Wer Angela Merkel kennt, weiss, dass sie mit Superlativen und Emotionen normalerweise geizt. Sie wählt ihre Worte stets mit Bedacht, nie aus Leidenschaft. Doch angesichts exponentiell steigender Infektionszahlen klingt die Noch-Kanzlerin eindringlich wie lange nicht mehr.
Eine vermeidbare Situation
Deutschland befinde sich in einer «hochdramatischen» Situation, sagte sie nach einem Treffen mit den Länderchefs und -chefinnen. Eine Situation, die vermeidbar gewesen wäre, hätten sich mehr Menschen impfen lassen, so Merkel weiter.
Die Politik pocht nun vehement auf die Eigenverantwortung der Menschen – einmal mehr. Ihre Appelle reichen von flehentlich über belehrend bis hin zu verdammend. Eine echte Impfkampagne hingegen: Fehlanzeige. Seit Sommer hat sich praktisch nichts bewegt, stattdessen wurden Gratistests abgeschafft und es wurde das Ende aller Massnahmen prophezeit.
Mit dem Versprechen, die Pandemie zu beenden, lassen sich vielleicht Wahlen gewinnen, nur ist das Prinzip Hoffnung keine besonders hilfreiche Strategie im Pandemie-Management. Jetzt ist die Regierung nur noch geschäftsführend im Amt, das Kabinett Merkel glänzt weiter mit organisierter Untätigkeit und die Chefin ist eine «lame duck», eine lahme Ente.
Die Welle hat erst losgelegt
Dabei warnen Experten und Wissenschaftlerinnen seit Juli vor einer Entwicklung, wie sie Deutschland gerade erlebt. Die Infektionszahlen erreichen jeden Tag einen neuen Rekord, und waren 20'000 Neuinfektionen vor einem Jahr noch ein Worst-Case-Szenario, sind über 60'000 heute Realität.
Die Spitäler füllen sich, in manchen Intensivstationen Sachsens oder Bayerns ist bereits kein Platz mehr, und die Welle hat gerade erst losgelegt. Dass die Lage nicht längst eskaliert ist, liegt an der Impfung. Über 67 Prozent der Bevölkerung sind vollständig, rund 70 Prozent mindestens einmal geimpft. Doch es sind zu wenige, um die Wucht der aktuellen, vierten Welle zu durchbrechen.
Selbst Impfpflicht ist Thema
Nun müsse «schnell und konsequent» gehandelt werden, sagte Merkel: 3G am Arbeitsplatz und im öffentlichen Verkehr, 2G in der Freizeit – so lauten die neuen Regeln. Und Bundesländer mit einer hohen Hospitalisierungsrate, also besonders vielen Corona-Patienten im Spital, verpflichten sich zu noch weitreichenderen Massnahmen.
Bereits jetzt liegen zwölf von 16 Bundesländern über dem selbst gesetzten Schwellenwert, manche deutlich. Auch deshalb dürfte der Konsens breit gewesen sein beim Treffen der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der Kanzlerin und ihrem Sozius Olaf Scholz. Nichts wird mehr ausgeschlossen, selbst eine Impfpflicht – zumindest für bestimmte Berufe – nicht.
Die Krise dauert an, sie war nie weg. Dass diese Einsicht jeweils so spät kommt, hilft nicht.