Vieles ist in Grossbritannien während der Pandemie schiefgelaufen. Doch eine Erfolgsgeschichte gibt es. Die Regierung holte Tausende von Obdachlosen von der Strasse und brachte sie in Hotels und Pensionen unter.
Hilfsorganisationen hatten bereits früh gewarnt, dass Obdachlose besonders anfällig für den Corona-Erreger seien. In Grossbritannien leben rund 6000 Menschen auf der Strasse. Jedenfalls gemäss der offiziellen Sozialstatistik. Sozialarbeiter schätzen jedoch, dass es 30'000 bis 50'000 Personen sind.
Und so blieben trotz der Bemühungen in diesen gefährlichen Zeiten viele auf der Strasse. So ein Mensch ist Gerry. Er hat die Pandemie am Ufer der Themse «abgewettert».
Gerrys Nachtlager besteht aus Wurmfarn. Dieser wächst in Kew am Ufer der Themse unter den Bäumen üppig. Hier rollt Gerry abends seinen Schlafsack und seine Decken aus und schläft, bis ihn morgens die Vögel oder ein Schiffshorn wecken. Das tönt romantisch. Ist es aber nicht.
«Nein, es ist kein einfaches Leben, es ist ein hartes Leben – eher ein Überleben», sagt Gerry. Jeden Tag müsse er schauen, wie er zu seinem Essen komme, und im Winter sei es nachts brutal kalt. «Es ist alles andere als romantisch, sondern hart. Man überlebt von Tag zu Tag.»
Viele Schicksalsschläge erlitten
Gerry ist geschieden, arbeitslos und seit fünf Jahren obdachlos. Ein Arbeitsunfall, eine zerbrochene Beziehung und der Verlust des Jobs hätten ihn aus der Bahn geworfen. Und das hat Spuren hinterlassen.
Die Schuhe des 49-jährigen ehemaligen Bauarbeiters sind löchrig, das Gesicht unrasiert, die Zähne lückenhaft, die langen Fingernägel schwarz und der Atem ist selbst im Sitzen keuchend. Er hat die Coronakrise buchstäblich im Busch «abgewettert».
«Die Coronakrise hat so viele Menschen auf die Strasse getrieben. Leute, die wegen der Pandemie ihren Job und damit ihr Einkommen verloren haben», sagt Gerry. Wegen der Ansteckungsgefahr wurden auch Gassenküchen und andere Anlaufstellen geschlossen.
Die Obdachlosen in diesem Land sind gestrandet und niemand hilft uns.
«Das heisst, es gibt nirgends mehr eine warme Mahlzeit oder einen Ort, wo man sich und die Kleider waschen kann. Die Obdachlosen in diesem Land sind gestrandet und niemand hilft uns.»
Das stimmt so nicht ganz. Das «Obdachlosen-Programm» der Regierung war eine der wenigen Erfolgsgeschichten während der Pandemie. Als das Coronavirus Grossbritannien erreichte, wurden Tausende von Obdachlosen von den Behörden in leeren Hotels untergebracht.
Doch die Zahl der Obdachlosen ist in Grossbritannien viel höher als offiziell ausgewiesen. Viele Leute haben während der Krise ihren Job verloren und damit auch ihr Dach über dem Kopf.
Insbesondere Wanderarbeiter aus Osteuropa, welche in der Gastronomie und der Tourismusbranche tätig waren, standen nach dem Lockdown plötzlich ohne Job da. Wer es nicht rechtzeitig über die Grenze nach Hause schaffte, endete oft auf der Strasse.
Anlaufstellen sind plötzlich geschlossen
Die Schliessung der Restaurants und Pubs hatte aber auch Folgen für Leute wie Gerry, die bereits auf der Gasse lebten. Viele Türen blieben plötzlich geschlossen, beispielsweise diejenige des «Engels». Ein Pub eine Meile von Gerrys Nachtlager entfernt. Der Wirt habe den Obdachlosen spätabends jeweils eine Mahlzeit spendiert. Doch der «Engel» blieb virusbedingt über 100 Tage geschlossen.
«Als das Pub plötzlich zu war, gab es keine warmen Mahlzeiten mehr. Da ist zwar noch die Sankt Daven Church, dort verteilen sie am Donnerstag immer alte Sandwiches, aber warm gegessen habe ich seit Wochen nicht mehr», sagt Gerry.
«Dort einen Kaffee, dort ein Sandwich, ein Jogurt. Es gab insbesondere keinen Ort, wo man mit anderen Menschen zusammensitzen und essen konnte. Immer allein sein ist hart.»
Diese Leute vergessen, wie schnell man auf der Strasse landen kann.
Während Gerry auf seinem Schlafsack erzählt, nähern sich auf dem Uferweg ein Mann und eine Frau. Hände haltend. Weisse Beine in kurzen Hosen. Beide tragen Schutzmasken und blaue, chirurgische Gummihandschuhe. Sie betrachten Gerry wie Insektenforscher und machen einen sehr weiten Bogen um ihn.
Der 45-jährige Obdachlose schüttelt still den Kopf. Viele Leute seien sehr nett und grosszügig, doch einige rümpften die Nase und behandelten ihn herablassend. «Das ist demütigend. Diese Leute vergessen, wie schnell man auf der Strasse landen kann. Karriere, Familie, ein Haus. Nichts hält ewig.» Eine teure Scheidung, ein Konkurs und plötzlich gerate alles durcheinander. «Man muss demütig und dankbar bleiben, wenn es das Schicksal gut mit einem meint.»
Er träumt von einer warmen Dusche
Gerrys Blick schweift über den Fluss. Am anderen Ufer erstreckt sich das 80-Hektaren-Anwesen des Duke of North Thumberland – das Syon House. Die Morgensonne spiegelt sich in den Fenstern des Schlosses. Das Haus ist bekannt für seine Marmorböden, Seidentapeten und etruskischen Ornamente. Eine so vornehme wie exklusive Nachbarschaft, die Gerry gelegentlich zum Träumen bringt.
Doch Gerry träumt nicht von einem Schloss. Ein weiches Bett und eine warme Dusche in einem Hotelzimmer würden ihm genügen. Ein Ort, wo man sich für einige Stunden ungestört gemütlich zurücklehnen und entspannen kann. «Wer weiss – vielleicht meint es das Schicksal gut mit mir und mein Traum wird wahr.»
Rückkehr zur Normalität als Problem
Fast 15‘000 Obdachlosen in England verschaffte die britische Regierung während der Pandemie eine ordentliche Unterkunft. Allein 4500 in London. Viele bekamen Zimmer in Hotels, die wegen der Pandemie schliessen mussten. Sicher und komfortabel, wie es viele Obdachlose seit Jahren nicht mehr kannten.
Doch mit der Rückkehr zur Normalität könnte der Traum von Gerry unerfüllt bleiben. Die Hotels und Pensionen öffnen wieder und viele Obdachlose werden ihre Zimmer räumen und bald wieder unter Brücken, auf Parkbänken oder Wurmfarn am Ufer der Themse schlafen müssen.