Viele EU-Staaten gehen zu einer Art Alltag über, wie man ihn vor der Pandemie kannte. Doch sie werden sich dafür rechtfertigen müssen, wie sie die Krise gemeistert haben. Ulrike Guérot vertritt die Idee einer europäischen Republik und der Abschaffung der Nationen. Für sie hat Europa während der Pandemie eine hässliche Seite gezeigt. Der Vorschlag eines Hilfspakets für ärmere EU-Länder gebe aber Hoffnung.
SRF News: Sie sagen, die EU habe die Krise schlecht gemeistert. Was meinen Sie damit?
Ulrike Guérot: Es gab in den letzten Wochen latente Unruhe. Südeuropäische Staatschefs waren unzufrieden, ja ungehalten wegen der mangelnden Solidarität des Nordens. Kanzlerin Merkel möchte mit der vehementen Initiative mit dem französischen Präsidenten Macron solche Gedanken gar nicht erst aufkommen lassen. Der Vorwurf, Deutschland wäre nicht solidarisch, soll aus dem Raum geschafft werden.
Kann man vor der Wiedergeburt eines geeinten Europas sprechen?
Es gibt Hoffnung. In der Coronakrise gab es sehr problematische Szenen – etwa, als kubanische Ärzte oder russische Lastwagen in Bergamo zu sehen waren, aber keine einzige europäische Fahne. Ich bin erfreut, dass sich jetzt eine Wende beobachten lässt.
Ich war zutiefst erschrocken, wie in Windeseile die Grenzen geschlossen wurden. Als wenn es 70 Jahre europäische Integration nie gegeben hätte.
Man muss aber abwarten, ob der deutsch-französische Vorstoss durchkommt. Auch in Deutschland gibt es unterschiedliche Stimmen. Finanzminister Olaf Scholz sagte in einem Interview, dass in der EU nichts so bleiben könne, wie es sei. Man müsse etwa über ein gemeinsames Budget für die Euro-Zone nachdenken. Das sind neue Töne.
Während der Pandemie liess sich die Tendenz zur Bildung regionaler Bündnisse feststellen. Im Baltikum haben drei Länder beschlossen, die Grenzen zueinander zu öffnen, sich aber gegen aussen abzuschotten. Spanien überlegt sich, die Grenzen zu Portugal zu öffnen. Sie proklamieren ja schon lange eine Regionalisierung statt einem grossen Konstrukt.
Generell plädiere ich in dieser Pandemie dafür, dass es sinnvoll ist, Risikogebiete abzuriegeln – aber nicht Grenzen zu schliessen. Im Dreiländereck von Deutschland, Frankreich und Luxemburg gab es ein Risikogebiet mit grosser Durchseuchung. Die Grenzschliessung war nicht sinnvoll. Es hat das Ganze erschwert, dass etwa französische Pflegekräfte nicht mehr nach Luxemburg kommen konnten.
In der Pandemie waren Ballungsgebiete in grossen Städten wie London oder New York stärker betroffen als ländliche Regionen. Es ist richtig, nach Risikogebieten zu unterscheiden, aber nicht nach Landesgrenzen. Ob daraus für Europa eine neue Form der politischen Regionalisierung entsteht, bleibt abzuwarten. Was in Schottland mit Blick auf den Brexit oder in Katalonien passiert, sind interessante Bewegungen.
Im Film «Die höhere Gewalt» lässt ein Vater seine Familie im Stich, als eine Lawine auf die Hotelterrasse zu donnert. Zwar überleben alle. Aber die Frau merkt: Wenn es hart auf hart kommt, ist kein Verlass auf meinen Mann. Passierte in dieser Pandemie das Gleiche innerhalb der EU?
Ich war zutiefst erschrocken, wie in Windeseile die Grenzen geschlossen wurden. Als ob es 70 Jahre europäische Integration nie gegeben hätte. 50 Prozent der Italiener wollen nun aus der EU austreten. Ich weiss nicht, ob es noch einen Wandel geben kann. Vielleicht ist der Wunsch Vaters des Gedankens. Aber ich hoffe, dass der Vorstoss von Merkel und Macron fruchtet. Sonst droht der Kontinent zu zerfallen. Ein Zurück zum Normalzustand gibt es nicht.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.