Das jüdische Neujahrswochenende hatte sich der junge Aktivist Uri Weltmann in Tel Aviv anders vorgestellt. Der Mathematiker und Mittelschullehrer gehört zum Führungsteam der jüdisch-arabischen Gerechtigkeits- und Gleichstellungsbewegung «Standing Together», die kürzlich 1000 leere Stühle in Tel Aviv aufstellte, um die Zahl der Corona-Toten in Israel fassbar zu machen.
Das zweite jüdische Fest im Lockdown
Uri sitzt zu Hause und macht das Interview von seinem Computer-Bildschirm aus. «Statt mit allen Verwandten ein grosses Fest zu machen, feierten wir daheim im engsten Familienkreis oder in Videokonferenzen. Es war ein schwieriges Neujahrsfest.» Bereits das Pessachfest im Frühling hatte im Lockdown stattgefunden. Dass ein zweiter Lockdown auch das Neujahrsfest ruinieren würde, hätte damals niemand gedacht.
Dass wir einen zweiten Lockdown haben, zeigt, dass unsere Regierung in der Coronakrise versagt hat.
Es hätte auch gar nicht so weit kommen müssen, sagt Uri Weltmann: «Dass wir einen zweiten Lockdown haben, zeigt, dass unsere Regierung in der Coronakrise versagt hat.» Die Regierung habe es versäumt, im ersten Lockdown ein Auffangnetz zu spannen für Angestellte und Selbständige, die ihren Job verloren – und das waren bis Anfang Mai 1.4 Millionen Menschen.
Deshalb sei der Druck gestiegen, vor allem von Geschäftsbesitzern, den ersten Lockdown frühzeitig zu beenden. Der Arbeitsmarkt erholte sich jedoch nicht. Elias Abu Axa aus Galilea, ein langjähriger arabisch-israelischer Touristenführer für deutschsprachige Gruppen, leidet – wie viele in seiner Branche. «Ich bin schon seit dem 10. März arbeitslos und ich weiss nicht, wie lange das noch dauert. Wir sehen schwarz.»
Jeden Tag andere Massnahmen
Israels Sozialversicherungen sind im Vergleich anderer OECD-Staaten schlecht ausgebaut. Elias Abu Axa erhält gerade mal ein Drittel seines letzten Gehalts. Er meint, Regierungschef Benjamin Netanjahu habe die Krise ausnützen wollen, um seinen Korruptionsprozess zu verschieben. «Deshalb ergreift er jeden Tag andere Massnahmen. Es gibt kein Vertrauen mehr in ihn.»
Über 60 Prozent der Israelis vertrauen der Regierung in der Coronakrise nicht mehr. Tausende demonstrierten in den vergangenen Monaten gegen Netanjahu, auch vor seiner Residenz in Jerusalem. Was vom Staat kommt, wird viele aber kaum durch den zweiten Lockdown bringen. Das macht dem Aktivisten Uri Weltmann Angst.
«Ich sehe die steigenden Ansteckungszahlen, die vielen Toten – diese Krise überwinden wir nur, indem wir uns verantwortungsvoll benehmen und miteinander solidarisch sind!». Genau das erwarte er auch von seiner Regierung – sonst nütze dieser zweite Lockdown so wenig wie der erste.