In Israel werden derzeit jeden Tag weit über 1000 neue Corona-Infektionen gemeldet, und es gibt keine Anzeichen, dass die Regierung die zweite Welle der Pandemie schnell in den Griff bekommt. Viele Israelis fühlen sich im Stich gelassen und sind in den letzten Tagen zu Tausenden auf die Strasse gegangen, um gegen das Krisenmanagement zu protestieren. NZZ-Korrespondentin Inga Rogg glaubt aber nicht, dass es zu Neuwahlen kommt.
SRF News: Die Demonstranten werfen der Regierung vor, im Kampf gegen das Coronavirus versagt zu haben. Was kreiden sie ihr konkret an?
Inga Rogg: Am Wochenende gab es eine sehr grosse Demonstration in Tel Aviv, eine der grössten seit Langem. Da ging es vor allem um die Wirtschaftslage. Der Bevölkerung brennt unter den Nägeln, dass sie Einkommensverluste hinnehmen muss. Sie hat den Eindruck, die Regierung kriegt die Lage nicht in den Griff. Im Gegenteil, es wird schlimmer.
Wieso steht Premierminister Benjamin Netanjahu im Fokus der Proteste?
Zuletzt ging es zum Beispiel um Steuererlasse, die er haben wollte, und die ihm die Knesset auch genehmigte. Die Leute sagen sich, der Ministerpräsident gönnt sich hier Steuererleichterungen. Und wo bleiben wir? Dem geht es um sein eigenes Wohl, er kümmert sich nicht um die Anliegen der Bevölkerung.
Netanjahu hat ein Hilfspaket in der Höhe von umgerechnet über 20 Milliarden Franken angekündigt, das vor allem Arbeitslosen und Selbstständigen zugutekommen soll. Hat das die Gemüter beruhigt?
Er hat sogar noch einmal nachgelegt. Er trat letzte Nacht vor die Presse und erklärte, es gebe Hilfen für jeden Israeli. Alleinstehende sollen um die 200 Franken bekommen und Familien bis zu knapp 900 Franken.
Die Regierung hat versprochen, dass die Gelder diese Woche kommen.
Aber die Leute sagen: Im Frühjahr, während der ersten Coronawelle, hattet ihr auch schon Hilfe versprochen, und die ist bis heute noch nicht auf unserem Konto eingegangen. Die Regierung hat nun versprochen, dass die Gelder diese Woche kommen. Jetzt muss man abwarten, ob das auch wirklich passiert.
Der Gesundheitsminister hat bereits einen neuen Lockdown in Aussicht gestellt. Was hiesse das für die israelische Wirtschaft?
Für sie wäre es eine Katastrophe. Die Arbeitslosigkeit ging nach der Aufhebung des ersten Lockdowns zurück, jetzt ist sie wieder gestiegen. Sie liegt derzeit bei 21 Prozent. Gerade das Kleingewerbe und die vielen Selbstständigen können das nicht mehr verkraften. Der Finanzminister hat gesagt, wir werden alles tun, um einen zweiten Lockdown zu verhindern. Der Gesundheitsminister sagte hingegen, es müsse ein Wunder passieren, um einen zweiten Lockdown zu verhindern. Man muss abwarten.
Können sich die Regierung und Netanjahu so noch im Amt halten?
Die Enttäuschung wächst. In Umfragen fällt die Zustimmung für den Premierminister. Trotzdem wird sich die Regierung erst mal im Amt halten können. Für alles andere müssten die Proteste sehr viel grösser werden. Und sie müssten auch jene Wählerkreise erfassen, die Netanjahu ihre Stimme geben.
Heisst das: Ändern wird sich nichts, Netanjahu bleibt im Amt?
So würde ich es nicht sagen. Diese Regierung fusst auf einer sehr komplizierten Koalitionsvereinbarung zwischen Netanjahu und seinem Bündnispartner Benny Gantz. Es wird über Neuwahlen spekuliert.
Neuwahlen würden Netanjahu nur schaden.
Aber eigentlich gibts keinen Anlass für Netanjahu, solche auszurufen. Solche würden ihm nur schaden. Trotzdem: Wenn der Unmut wächst und die Demonstrationen grösser werden, stellt sich die Frage, ob er nicht irgendwann doch zurücktreten muss. Aber an dem Punkt sind wir noch nicht.
Das Gespräch führte Roger Aebli.