In Israel steht mit Benjamin Netanjahu erstmals ein amtierender Ministerpräsident vor Gericht. Netanjahu versuche mit allen Mitteln, den Korruptionsfall in einen politischen zu verdrehen, sagt die Journalistin Gisela Dachs.
SRF News: Wie verlief der Auftakt des Prozesses?
Gisela Dachs: Netanjahu sass beim 50-minütigen Prozessauftakt der Staatsanwältin gegenüber, welche die Anklage gegen ihn zusammengestellt hat. Zuvor hatte er sich vor dem Gerichtssaal mit seinem Regierungskabinett im Rücken den Medien präsentiert und sich als Opfer der Justiz und der Medien dargestellt.
Netanjahu wollte beim Prozessauftakt nicht selber erscheinen. Wie begründete die Staatsanwaltschaft, dass er persönlich teilnehmen müsse?
Ganz einfach: Mit der Aussage, dass vor dem Gesetz alle gleich seien. Dazu gehört, dass der Angeklagte zu Beginn eines Prozesses, wenn die Anklageschrift verlesen wird, anwesend ist.
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Netanjahu hat diesen Prozess als «Witz» bezeichnet – er nimmt ihn aber trotzdem ernst?
Es bleibt ihm nichts anderes übrig. In der Vergangenheit wurden schon mehrmals hohe Politiker angeklagt und schliesslich auch verurteilt. Netanjahu versucht nun, dem Prozess eine grössere Bedeutung zu verleihen, indem er behauptet, mit ihm sitze die gesamte Rechte Israels auf der Anklagebank. Er stilisiert sich als Opfer der linken Medien und Richter, die aus kleinen Details etwas aufbauschen würden, um ihn als Premier abzusetzen.
Ist vorhersehbar, wie lange der Prozess dauern wird?
Der nächste Termin ist für den 19. Juli angesetzt, dann ohne Netanjahu persönlich. Seine Anwälte wollten die Verhandlung sogar bis März 2021 aufschieben. Damit kamen sie aber nicht durch. Grundsätzlich könnte der Prozess Jahre dauern, doch die Richter und Staatsanwälte machen nicht den Eindruck, dass sie den Prozess unnötig hinauszögern wollen.
Die Anhänger Netanjahus machen aus dem Prozess eine Glaubensfrage.
Interessiert der Prozess die israelische Bevölkerung überhaupt?
In der Tat polarisiert der Prozess die israelische Gesellschaft. Vor dem Gerichtsgebäude gab es Demonstrationen pro und kontra Netanjahu. Die Anhänger Netanjahus machen daraus eine Glaubensfrage: Entweder man sei dafür oder dagegen. Die andere Seite sagt, es sei eine Schande, dass der Ministerpräsident Israels auf der Anklagebank sitze. Durch den Prozess steht auch die israelische Justiz auf dem Prüfstand.
Muss Netanjahu im Fall einer Verurteilung mit einer Gefängnisstrafe rechnen?
Es kommt auf die Schwere der allfälligen Verurteilung an. Spekuliert wird auch, ob eine Einigung – etwa im Gegenzug zu einem Rücktritt Netanjahus – noch möglich ist. Eine – wenn auch wenig wahrscheinliche Option – ist zudem, dass sich Netanjahu in anderthalb Jahren zum Staatspräsidenten wählen lassen könnte. Dann würde er von einer siebenjährigen Immunität profitieren. Der Prozess könnte in diesem Fall erst danach fortgeführt werden.
Das Gespräch führte Claudia Weber.