Die Fussgängerzone ist voller Menschen. Dicht gedrängt stehen sie vor den Essensständen mit den Fleischspiessen und den gebratenen Muscheln an. Einige Passanten tragen Masken, andere nicht. Hier im Stadtzentrum von Wuhan scheint die weltweite Viruskrise weit weg. Kaum zu glauben, dass noch Anfang Jahr die Strassen menschenleer und die Spitäler überfüllt waren.
Auf den ersten Blick erinnert tatsächlich wenig an die Viruskrise. Auch nicht beim Huanan-Markt – jenem Fleisch- und Fischmarkt, der vor einem Jahr weltweite Berühmtheit erlangte. Der Markt ist längst geschlossen und jetzt zusätzlich von einer Metallwand umgeben. Sie ist dekoriert mit traditionellen chinesischen Malereien, davor stehen Topf-Palmen.
Fiese Ausländer
Die Händler haben ihre Stände jetzt an einen Markt am Stadtrand, eine Dreiviertelstunde Autofahrt vom alten Markt entfernt. In den Auslagen liegen tote Enten und Hühner. In Wassertanks schwimmen lebende Schildkröten, Fische und Crevetten.
Kaum nehme ich das Mikrofon hervor, gehen mir die Händler aus dem Weg. Einer sagt erbost: «Ihr seid richtig schlecht. Ihr Ausländer seid fies.» Auf die Frage weshalb, antwortet er: «Hau ab, verschwinde!»
Mit Journalisten reden will hier fast niemand. Die Händler fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Ein Fischhändler sagt schliesslich, er habe während der Krise sehr viel Geld verloren, auf Nachfragen will er aber keine Antwort geben.
Eine Fleischverkäuferin lässt sich zu einem kurzen Gespräch überreden. Sie sei schon vor dem Umzug der neuen Händler hier gewesen, sagt sie. Kritisieren will sie nichts, stattdessen lobt sie die strengen Hygienevorschriften. Die Stände würden regelmässig desinfiziert, die Verkäuferinnen und Verkäufer müssten Masken tragen und Fieber messen.
«Die Regierung hat uns angelogen»
Doch es gibt sie, die kritischen Stimmen. Menschen, die nicht einfach zum Alltag zurückkehren wollen. Zum Beispiel Zhang Hai. Er fährt mit seinem Auto über die Stadtautobahn in Wuhan.
Während der Viruskrise hat er seinen Vater verloren, mit weiteren Angehörigen von Covid-Opfern will er die Behörden in Wuhan zur Rechenschaft ziehen. «Die Lokalregierung in Wuhan hat uns angelogen», sagt er.
Zhangs Vater hatte sich Mitte Januar in einem Spital in Wuhan mit dem Virus angesteckt, zu einem Zeitpunkt, als die Behörden die Krise noch herunterspielten. Deshalb hat Zhang gegen die Stadtregierung in Wuhan Klage eingereicht. Bis jetzt ist es zu keinem Gerichtstermin gekommen.
Zhang fährt schnell, er redet sich in Rage. «Diese Beamten mit ihren Privilegien, wenn gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger sterben, kümmert sie das nicht.»
Brief an Xi Jinping
Trotz der Trauer und des Frusts: Zhang weiss, wie weit er gehen darf. So kritisiert er explizit die lokalen Behörden. Kritik an der Zentralregierung oder gar am System äussert er nicht.
Zhang Hai hat sogar einen Brief an Chinas Präsidenten Xi Jinping geschrieben, in dem er die Lokalregierung kritisiert. Ob Xi seinen Brief gelesen habe, frage ich ihn. Darauf weiss Zhang Hai keine Antwort. Und er weiss auch nicht, ob seine Klage gegen die Stadtregierung Erfolg haben wird.
«Ich habe mich zumindest getraut, zu klagen», sagt er. Er wolle dies jetzt auch durchziehen.
Geklagt hat auch Yang Min. Sie hat ihre 24-jährige Tochter verloren. Diese steckte sich ebenfalls Mitte Januar bei einem Spitalbesuch mit dem Virus an. Die Behörden hätten damals noch nicht zugegeben, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar sei, ärgert sich Yang.
Die Regierung Wuhans sei verantwortlich für den Tod ihrer Tochter, ist sie überzeugt. «Ich will, dass alle erfahren, wer der Schuldige ist, wer die Verantwortung trägt, dass die Viruskrise vertuscht wurde», sagt sie.
Das Gespräch findet nicht bei Yang Min zu Hause statt, sondern in einem Teehaus. Von ihrem Umfeld erhält sie keine Unterstützung – im Gegenteil. Yang sagt, die Behörden würden Druck auf Familienmitglieder und Bekannte ausüben.
Diese würden wiederum versuchen, sie zum Aufgeben zu überreden. «Sie sagen mir, was ich tue, habe keinen Zweck, ich würde sowieso nichts erreichen». Doch ans Aufgeben denke sie nicht.
Von der Gesellschaft fühlt sie sich weitgehend ignoriert. Chinesische Medien etwa würden sie erst gar nicht interviewen, Interesse zeigten lediglich ausländische Journalistinnen und Journalisten.
Menschen wie Yang Min und Zhang Hai passen nicht in die offizielle Erzählweise der chinesischen Regierung, nach der China die Krise erfolgreich gemeistert hat.
Regierung feiert Sieg über Covid
Zu sehen ist dies etwa in einer aktuellen Covid-Ausstellung in Wuhan. Selbstkritik oder gar Aufarbeitung finden hier nicht statt. Stattdessen ist Xi Jinping in der Ausstellung omnipräsent: Auf überlebensgrossen Leinwänden, unzähligen Fotos und Videoaufnahmen. Etwa Xi, der sich beim medizinischen Personal bedankt oder Xi auf Stippvisite in Wuhan.
Dutzende Figuren in medizinischer Schutzkleidung und Soldaten in heldenhaften Posen sind zu sehen zwischen einem Meer von roten Fahnen. Auch ein Krankenauto gehört zur Ausstellung und sogar ein ganzer Kran.
Auf dem Platz vor der Ausstellungshalle hält eine Gruppe Studentinnen und Studenten eine Parteiflagge mit Hammer und Sichel hoch.
In der Nähe stehen weitere Jugendliche, sie haben die Ausstellung gerade besucht. Was sie wohl von der Ausstellung halten? Wer am meisten zur Bewältigung der Krise beigetragen habe, möchte ich von ihnen wissen.
«Das Pflegepersonal», sagt eine Studentin aus Wuhan. Die Pflegerinnen und Pfleger hätten sicher am härtesten von allen gearbeitet. Der Mann neben ihr findet dagegen, dank der Kraft der ganzen Nation, sei die Krise bewältigt worden. Ein Student lobt die Ausstellung, sie zeige, wie die Führung und das Volk die Krise gemeinsam bekämpft hätten.
Zurück beim geschlossenen Fisch- und Fleischmarkt unweit des Zentrums. Auf der mehrspurigen Strasse fahren Autos und Motorräder vorbei. Auf dem Trottoir verteilen Immobilienmakler Flugblätter. Ein Pärchen schiebt einen Kinderwagen vor sich her. Das Leben in Wuhan ist zurück – an der Oberfläche.