Während in Paris, Lissabon und Berlin die Warteschlangen vor den Impfzentren länger und länger werden, wird in Grossbritannien wacker geimpft. Bis heute haben bereits 8 Millionen Britinnen und Briten ihre erste Dosis erhalten. Das sorgt auf dem Kontinent für rote Köpfe.
In Brüssel erwartet man, dass ein Teil der Impf-Chargen aus den Astra-Zeneca-Fabriken in Grossbritannien auf das europäische Festland spediert werden. Einfach zuerst einmal die eigene Bevölkerung zu impfen, wie das die Briten zurzeit machen, erscheint stossend. Denn am Ende leben wir alle im gleichen Biotop. In einer globalisierten Welt. Längst durchlässig für Menschen, Früchte, Gemüse, Rohstoffe, Geld, Informationen und für Viren. Grenzschliessungen mögen epidemiologisch temporär Sinn machen, aber ein «Impfstoff-Handelskrieg», wie er sich zwischen Grossbritannien und der Europäischen Union abzeichnet, ist während einer Pandemie nicht zielführend.
Impfstoffproduktion vielerorts vernachlässigt
Wenn die Dinge schieflaufen, liegt die Suche nach Schuldigen auf der Hand. Die Realität ist oft vielschichtiger. Der aktuelle Wettlauf für Impfdosen zeigt, wie die Impfstoffproduktion von vielen Regierungen über Jahre vernachlässigt wurde. Die zeit- und kostenintensive Impfstoffentwicklung ist nicht lukrativ und wurde von den grossen Pharmafirmen bereits vor Jahren verkauft. Auch in der Schweiz forscht nur noch eine Handvoll Firmen an Impfstoffen. Ein Zustand der von Experten schon lange kritisiert wird, weil damit die Abhängigkeit zugenommen hat.
Die britische Regierung hat diesen Missstand im vergangenen Frühling erkannt. Sie hat nicht nur für viel Geld Impfdosen bestellt, sondern ebenso die Forschung an der Universität Oxford mit grossen Summen unterstützt und die Wissenschaft mit der Firma Astra-Zeneca an einen Tisch gebracht. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Loyalität zur britischen Regierung ein bisschen grösser ist, als gegenüber anderen Kunden. Nachvollziehbar ist ebenso die Anspruchshaltung der Steuerzahler jenes Landes, das wie kein anders in Europa von der Pandemie getroffen wurden.
Irritierend ist jedoch, wenn die britische Regierung die ganze Impfproduktion allein als Geschäftsvorgang betrachtet und ihre alleinigen Ansprüche damit begründet, dass man halt drei Monate früher bestellt habe als Brüssel. Das Prinzip «first in, first out» mag in der Quartierbäckerei gelten, aber nicht während einer globalen Gesundheitskrise.
Opposition spricht von «seriellem Versagen»
Die dezidierte Haltung der britischen Regierung ist in dem Sinn nachvollziehbar, dass dieses ehrgeizige Impfprogramm weit mehr ist, als eine präventiv-medizinische Massnahme. Es ist ebenso die Rettungsleine des Premierministers. Downing Street hat während dieser Krise nicht immer so weitsichtig agiert, wie bei der Bestellung von Impfdosen.
Bis heute sind in Grossbritannien über 100'000 Menschen dem Virus zum Opfer gefallen. Zu Beginn der Krise hat die Regierung nicht nur zögerlich sondern oft auch verwirrend gehandelt. Die Opposition spricht von «seriellem Versagen». An diesem Krisenmanagement wird man Boris Johnson einst messen. Die erfolgreiche Impfung aller Britinnen und Briten in Rekordzeit wird diese politische Abrechnung nicht verhindern, aber vielleicht etwas milder ausfallen lassen.